Berlin Die Bundesregierung senkt ihre Wachstumsprognose deutlich. Für das laufende Jahr rechnet sie nur noch mit einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 3,6 Prozent, wie das Handelsblatt aus Regierungskreisen erfuhr. Der „Spiegel“ hatte zuerst darüber berichtet. Die Vorgängerregierung battle im Herbst noch von 4,1 Prozent Wachstum in diesem Jahr ausgegangen.
Die Prognose ist Teil des Jahreswirtschaftsberichts, der am Mittwoch im Kabinett beschlossen werden soll. Dort äußert sich die Regierung nach Informationen der Nachrichtenagentur Reuters auch zur Inflation. Die wird demnach im laufenden Jahr bei 3,3 Prozent liegen – aufs Jahr gerechnet 0,2 Prozentpunkte über dem Vorjahreswert.
Das Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) ist mit 3,5 Prozent Wachstum für 2022 am pessimistischsten, etwas bessere Aussichten gibt es laut dem Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW) mit vier Prozent.
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Hatten die Institute für das laufende Jahr zuvor noch im Durchschnitt mit einem Wachstum von 4,8 Prozent gerechnet, erwarten sie im Schnitt nun bloß noch 3,8 Prozent. Die Revision der Prognose der Bundesregierung ist entsprechend keine allzu große Überraschung, bewegt sich aber am unteren Rand der Revisionen.
Grund dafür ist wohl vor allem die Erwartung, wann sich die Probleme im internationalen Handel auflösen. Torsten Schmidt, Konjunkturchef am Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Essen (RWI), sagte dem Handelsblatt: „Bei den Lieferengpässen ist die Bundesregierung ziemlich pessimistisch und erwartet den Aufschwung erst später in diesem Jahr.“ Ob dem so sein werde, sei weiter noch nicht abzusehen.
Unklare Aussichten bei den Lieferengpässen
Größte Hoffnung auf einen zeitnahen Aufschwung hatten die vollen Auftragsbücher der Industrie gemacht. Die deutschen Haushalte haben in den vergangenen zwei Jahren hohe Ersparnisse angesammelt, die Nachfrage nach vielen Gütern ist so hoch wie lange nicht. Nur: Die müssen eben auch hergestellt werden. Bloß fehlen dafür die Materialien – und wenn sie da sind, sind sie teuer.
Grund dafür sind die seit Monaten anhaltenden Verwerfungen in den internationalen Lieferketten. Rohstoffe und Vorleistungen fehlen. Ob Produzenten von Elektroartikeln, Möbeln, Kleidung oder Spielzeug, ihnen allen mangelt es an Materialien. IfW-Konjunkturchef Stefan Kooths sagte: „Besonders in der Industrieproduktion“ behinderten die Lieferengpässe den Aufschwung.
74 Prozent der Firmen klagen laut Ifo über Engpässe bei Vorprodukten und Rohstoffen. Mehr als 40 Milliarden Euro an Wertschöpfung haben die Schwierigkeiten demnach bislang schon gekostet – weitere 40 Milliarden könnten laut Ifo in diesem Jahr hinzukommen.
Die unterschiedlichen Einschätzungen zwischen den Konjunkturforschern und -forscherinnen fußen vor allem auf der Frage, wann der Umschwung in 2022 kommt. Klar scheint: Es steht ein zweigeteiltes Jahr bevor. Aktuell schrumpft die deutsche Wirtschaft angesichts der Lieferengpässe sogar.
RWI-Ökonom Schmidt sagt: „Die konjunkturelle Abschwächung im vierten Quartal 2021 wird sich im ersten Quartal nun fortsetzen.“ Mit dem erwarteten Rückgang der Corona-Infektionszahlen im Frühjahr und einer allmählichen Auflösung der Lieferengpässe besteht die Hoffnung, dass es dann endlich zum großen Aufschwung kommen wird.
2021 hatte die deutsche Wirtschaft um 2,7 Prozent zugelegt, nachdem die Prognosen im Voraus deutlich höher ausgefallen waren. Damit konnte der Einbruch im ersten Corona-Krisenjahr 2020 von damals 4,6 Prozent nicht ausgeglichen werden.
Mit den 3,6 Prozent bewegt sich die Regierungsprognose in nächster Nähe zu jener des IWH. Die Hallenser Ökonominnen und Ökonomen rechnen damit, dass Deutschland erst gegen Ende des zweiten Quartals wieder sein Vorkrisenniveau erreicht.
Die zuletzt sprunghaft gestiegene Inflation wird nach Einschätzung der Bundesregierung 2022 nicht sinken. Im Schnitt dürfte sie bei 3,3 Prozent liegen – nach 3,1 Prozent im vergangenen Jahr, berichtet die Nachrichtenagentur Reuters. Eine höhere Jahresrate wurde zuletzt 1993 mit damals 4,5 Prozent ermittelt.
Biontech-Faktor kann noch für Veränderungen sorgen
Für weitere Unklarheit in den Prognosen sorgt ein statistischer Sondereffekt. Verschiedenen Wirtschaftswissenschaftlern zufolge hat der Impfstoffproduzent Biontech für fast ein Fünftel des deutschen Wirtschaftswachstums 2021 gesorgt. 0,5 Prozentpunkte von den 2,7 Prozent Wachstum im vergangenen Jahr macht schätzungsweise allein Biontech aus.
Das Statistische Bundesamt hatte Daten zum BIP-Wachstum vergangene Woche veröffentlicht, es handelt sich dabei aber bloß um eine erste Schätzung. Die Behörde bestätigte, dass Biontech grundsätzlich in die Statistik mit eingeflossen sei und einen großen Einfluss habe.
Detailauskünfte zu einzelnen Unternehmen kann das Amt aber nicht geben. Da es sich bei den meisten Einnahmen von Biontech um Lizenzgebühren des Geschäftspartners Pfizer handelt, ist die Verbuchung in der amtlichen Statistik komplex.
Es ist nicht klar, ob die Lizenzzahlungen vollständig in das BIP 2021 einfließen oder ob sie noch ein Faktor für das laufende Jahr sind. Schmidt schätzt: „Die Verbuchung der Biontech-Lizenzeinnahmen wird zu einer Revision der BIP-Quartalsraten führen, die das Konjunkturbild noch etwas verändern wird.“ Das sorgt auch ein Stück weit für Unsicherheit bei der Interpretation der Regierungsprognose.