Landtagswahl
Rechtsruck und unregierbar? – Was in Thüringen möglich ist
Aktualisiert am 31.08.2024 – 10:00 UhrLesedauer: 4 Min.
Es geht um viel bei der Thüringer Landtagswahl gut eine Woche nach dem Anschlag von Solingen: AfD-Rechtsaußen Höcke könnte das Sagen bekommen – oder die CDU bandelt mit der Wagenknecht-Partei an.
Spitzenkandidaten, die sich bei gemeinsamen Auftritten anschreien, zornige Menschen auf den Straßen und das Erschrecken nach dem Anschlag in Solingen: Vor dem Wahlsonntag in Thüringen ist die Stimmung aufgeheizt, das Land wirkt polarisiert, mit jeder neuen Wahlumfrage steigt die Nervosität der Wahlkämpfer. Schon ist von einer Schicksalswahl die Rede, die die politischen Verhältnisse in dem kleinen Freistaat mit 2,1 Millionen Menschen grundlegend ändern könnte – mit bisher noch nie praktizierten Koalitionen oder gar Unregierbarkeit. Und das ein Jahr vor der Bundestagswahl.
In aktuellen Umfragen liegt die AfD mit ihrem Rechtsaußen Björn Höcke recht stabil zwischen 29 und 30 Prozent weit vor den anderen Parteien. Mit gut einem Drittel der Sitze könnte sie im Landtag nicht nur die Wahl von Richtern blockieren. Dass keine der anderen Parteien mit der AfD zusammenarbeiten will, bedeutet zwar Koalitionsunfähigkeit, ficht Höcke aber nicht an. „Wir wollen regieren“, sagt der 52-Jährige, der wegen der Nutzung einer Nazi-Parole vor einigen Wochen in erster Instanz zweimal zu Geldstrafen verurteilt wurde.
Nach dem mutmaßlich islamistischen Messerangriff bei einem Stadtfest in Solingen mit drei Toten versuchte die AfD, das Thema für ihren Wahlkampf zu nutzen. Höcke teilte bei X eine Kachel mit einem blutigen Messer und einer Wahlaufforderung, zudem kursiert im Netz der Hashtag „Höcke oder Solingen“. Nach dem jüngsten ZDF-„Politbarometer“ hat ihr das mit 29 Prozent aber nicht zu Auftrieb verholfen.
Viel Gegenwind bekam Höcke in der Woche vor der Wahl aus der Wirtschaft, nachdem er bei einem Wahlkampfauftritt eine Unternehmens-Initiative für Vielfalt und Toleranz attackierte. Die Kampagne „Made in Germany – Made by Vielfalt“ von Familienunternehmen bezeichnete er als Heuchelei. Und für seinen Satz „Ich hoffe, dass diese Unternehmen in schwere, schwere wirtschaftliche Turbulenzen kommen“ erntete er bundesweit massive Kritik. Der Präsident des Handelsverbandes Deutschland (HDE), Alexander von Preen, erklärte, „mit Björn Höcke hat sich eine der Führungsfiguren der AfD zum wiederholten Male selbst demaskiert“.
Wie er regieren will, lässt Höcke offen. Eine Brandmauer dürfe es in einer Demokratie nicht geben, sagt er nur. Doch die hat CDU-Chef Friedrich Merz bei einem Wahlkampfauftritt mit CDU-Spitzenkandidat Mario Voigt in Erfurt nochmals hochgezogen. Höckes AfD-Landesverband wird seit 2021 vom Landesverfassungsschutz als gesichert rechtsextremistisch eingestuft.
Chancenlos scheint nach den Umfragen die rot-rot-grüne Minderheitskoalition des nach wie vor beliebten Ministerpräsidenten Bodo Ramelow (Linke). Die Linke liegt bei 13 bis 14 Prozent, die SPD bei sechs bis sieben Prozent, und die Grünen wären mit drei bis vier Prozent raus aus dem Landtag. Damit steht in jedem Fall ein Regierungswechsel in Erfurt an. Aufgegeben hat Ramelow nach eigenen Angaben aber längst nicht.
Das Credo des 68-Jährigen: „Ich möchte meinen Beitrag leisten, dass die AfD nicht in die Lage versetzt wird, das Parlament zu erpressen.“ Ramelow, der wie eh und je täglich durch Thüringen tourt, hält zu anderen Parteien die Tür offen. Und natürlich würde er ans Telefon gehen, wenn ihn Voigt oder Sahra Wagenknecht nach dem 1. September anrufen.
Viele Regierungsoptionen gibt es nach den Umfragen nicht. Rein rechnerisch könnte es zu einem noch nie dagewesenen Modell kommen. CDU-Spitzenkandidat Voigt müsste dafür mit der Ex-Linken und ehemaligen Eisenacher Oberbürgermeisterin Katja Wolf vom Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) anbandeln und SPD-Chef und Innenminister Georg Maier in das recht experimentelle Bündnis holen. Die erst vor wenigen Monaten zum BSW gewechselte Wolf könnte damit so etwas wie der Joker nach der Wahl werden.
Nach den Umfragen kommt die CDU, die nach zehn Jahren Opposition wieder in die Staatskanzlei drängt, auf 21 bis 23 Prozent, das erst Anfang des Jahres gegründete BSW auf 17 bis 20 Prozent. „Das wird eine wahnsinnig knappe Angelegenheit“, vermutet Voigt. Eine Zusammenarbeit mit der Linken von Ramelow lehnt er ab. BSW-Bundeschefin Wagenknecht, die eifrig im Landtagswahlkampf mitmischt und von vielen Plakaten lächelt und bei einem Auftritt in Erfurt mit roter Farbe bespritzt wurde, hat Hürden aufgebaut.