Berlin Ein vorgezogener Kohleausstieg stellt die Betreiber der Stromübertragungsnetze vor Herausforderungen. Es bestehe die „erhebliche Gefahr“, dass ein Kohleausstieg bis 2030 zu einer Reduzierung des heutigen Niveaus der Versorgungssicherheit führe, heißt es in einer Analyse des Übertragungsnetzbetreibers Amprion, die am Dienstag vorgestellt wird. Sie liegt dem Handelsblatt vor.
Der Netzbetreiber betont, man begrüße den Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP ausdrücklich. Allerdings warnt das Unternehmen, die Versorgungssicherheit dürfe niemals zur Disposition gestellt werden. Daher macht Amprion einen vorgezogenen Kohleausstieg davon abhängig, dass einige Bedingungen erfüllt sind.
Im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP heißt es, „idealerweise“ gelinge der Kohleausstieg „schon bis 2030“. Gemäß Kohleausstiegsgesetz endet die Kohleverstromung hierzulande erst 2038. Gleichzeitig wollen SPD, Grüne und FDP den Ausbau der erneuerbaren Energien deutlich beschleunigen. Bereits 2030 sollen 80 Prozent des Stromverbrauchs aus erneuerbaren Quellen stammen. Bislang conflict für 2030 lediglich ein Wert von 65 Prozent angestrebt worden.
In der Amprion-Analyse heißt es, mit einem beschleunigten Kohleausstieg bei gleichzeitiger Beschleunigung des Erneuerbaren-Ausbaus stellten sich zwar „signifikante CO2-Reduktionen“ ein; es müsste jedoch eine Reihe „technischer Sachverhalte“ beachtet werden. So steige der Bedarf an Eingriffen in den Netzbetrieb deutlich.
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Ein Teil der stillzulegenden Kohlekraftwerkskapazitäten müsse „aus Gründen der Systemrelevanz temporär in die Netzreserve überführt“ werden. Kraftwerke, die zur Netzreserve zählen, nehmen nicht mehr am Strommarkt teil.
Sie werden nur dann hochgefahren, wenn beispielsweise im Norden Deutschlands Windstrom produziert wird, der wegen mangelnder Übertragungsnetzkapazitäten nicht in den Süden transportiert werden kann. Die Kraftwerke aus der Netzreserve produzieren dann südlich der entsprechenden Netzengpässe den benötigten Strom.
Kompensationsmaßnahmen stabilisieren das System
Amprion warnt, mit dem raschen Kohleausstieg bei gleichzeitig schnellerem Ausbau der Erneuerbaren sinke die Systemrobustheit. Die im Netzentwicklungsplan 2035 vorgesehenen Kompensationsmaßnahmen müssten auf 2030 vorgezogen werden. Dazu zählt Amprion insbesondere den Bedarf an Momentanreserve.
Momentanreserve steht bisher für das Stromsystem durch die Trägheit rotierender Massen konventioneller Kraftwerke zur Verfügung. Sie ermöglicht die Frequenzhaltung im Stromnetz, additionally den permanenten Ausgleich zwischen Erzeugung und Verbrauch. Wenn ein Großteil der konventionellen Kraftwerke wegfällt, fällt auch die entsprechende Momentanreserve aus. Dafür muss Ersatz her, mahnt Amprion.
Ähnlich verhält es sich bei der Blindleistung, die den Stromfluss im Wechselstromnetz erst ermöglicht. Auch sie wird zu erheblichen Teilen von konventionellen Kraftwerken erzeugt. Hier muss ebenso für Ausgleich gesorgt werden.
Die Beiträge zur Systemstabilisierung, die konventionelle Kraftwerke bislang quasi „nebenbei“ leisten, müssen nach Überzeugung von Amprion künftig über einen „Systemmarkt“ bereitgestellt werden. Die regulatorischen Voraussetzungen müsse die Politik schaffen, fordert der Übertragungsnetzbetreiber. Bei einem beschleunigten Kohleausstieg müssten „die netztechnischen Belange zwingend berücksichtigt“ werden.
Amprion warnt, in Knappheitssituationen steige die Importabhängigkeit Deutschlands zur Deckung der Nachfrage. „Ohne nennenswerte Ersatzinvestitionen in gesicherte Kapazitäten oder Vorhaltung von Reservekraftwerken sind vereinzelt sogar Lastunterdeckungen beziehungsweise unfreiwillige Lastabschaltungen möglich“, heißt es warnend in der Analyse. Mit anderen Worten: Es müssten Stromverbraucher vom Netz genommen werden, um das Netz stabil zu halten.
Dass mit einem vorgezogenen Aus für die Kohle zusätzliche gesicherte Kraftwerksleistung entstehen muss, etwa in Kind neuer Gaskraftwerke, ist unumstritten und wird auch von den Ampelkoalitionären erkannt. Wie der Bau solcher Anlagen angereizt werden soll, ist aber noch unklar.
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