Im Rückblick ist ein lang gehegter Plan erkennbar: Spätestens als Wladimir Putin auf seiner Jahrespressekonferenz im Dezember 2020 über die Ukraine herzog und eine tiefgehende Analyse über das Land ankündigte, bereitete er deren Auslöschung als unabhängiger Staat vor. Am 12. Juni erschien dann sein Aufsatz „Über die Einheit der Russen und der Ukrainer“. Dort erkennt er der Ukraine die Staatlichkeit ab – argumentiert genauso wie in seiner quick einstündigen Ansprache zur Begründung seines militärischen Vorgehens gegen die Ukraine.
In der Nacht zum Donnerstag begann Putin, die Ukraine von drei Seiten aus anzugreifen: von Norden aus Weißrussland, vom Osten aus Russland und im Süden von der Krim aus. „Die militärische Disposition der russischen Truppen lässt nur einen Schluss zu: eine Besetzung großer Teile der Ukraine, zumindest für eine kurze Zeit“, sagt Franz-Stefan Gady, Militärexperte am Worldwide Institute for Strategic Research (IISS).
Begonnen hätten die Angriffe mit massiven Raketenabwürfen auf Hauptquartiere und neuralgische Punkte der ukrainischen Streitkräfte und auf militärische Flughäfen sowie mit der Zerstörung der ukrainischen Luftverteidigungssysteme. Gleichzeitig seien Fallschirmtruppen hinter den ukrainischen Linien gelandet, begleitet von Kampfhubschraubern. Russland kontrolliere mit großer Wahrscheinlichkeit bereits den ukrainischen Luftraum, so Gady. Zudem gebe es Angriffe mit Panzerverbänden durch taktische Bataillonsgruppen von je 700 bis 900 Infanteristen.
„Die Scenario eskaliert rapide“, so Gady. „Russland wird versuchen, den Feldzug schnell zu beenden. Die Frage ist, ob die ukrainischen Streitkräfte es schaffen, sich langsam und intestine geordnet zurückzuziehen und neue Verteidigungsstellungen aufzubauen.“ Wenn ihnen das gelinge, könnten sie sich in den Städten festsetzen und es könnte zu blutigen Häuserkämpfen kommen.
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Die Gefahr eines großen Blutvergießens sieht auch der deutsche Brigadegeneral a. D., Klaus Wittmann. „Die Kräfte des russischen Militärs reichen nicht, um die Ukraine so zu besetzen, dass man sie wirklich annektieren kann“, ist er überzeugt. Wenn die Ukraine Russland militärisch unterliegen sollte, müsse Putin sich auf einen Untergrundkampf einstellen und sich die Frage stellen, wie viele tote russische Soldaten er sich erlauben könne.
Rein technisch und militärisch sei die russische Armee der ukrainischen überlegen. Russland habe rund eine Million Soldaten und Hunderte von Panzern, Artillerie, Raketenwerfern, Luftwaffe und Landungsschiffen.
Die Ukraine habe zwar nur 200.000 Soldaten, könne aber bis zu 900.000 Reservisten mobilisieren und habe mit deren Einberufung auch schon begonnen. Zwar hätten die Ukrainer größtenteils veraltetes militärisches Gerät, aber seit der Annexion der Krim 2014 und dem unerklärten Krieg im Donbass habe sich die ukrainische Armee weiterentwickelt und neue Militärgeräte angeschafft.
Seinen Eroberungszug bereitete Putin konkret seit Ende Oktober vor. Die Nato sah dem Aufmarsch von immer mehr Truppen und schwerem Militärgerät von Satelliten aus zu. Parallel wiegte Putin westliche Staatschefs in Sicherheit. Russland habe nicht vor, in die Ukraine einzumarschieren, ließ er die nach Moskau pilgernden Politiker wie Emmanuel Macron und Olaf Scholz oder seinen Telefonkontakt Joe Biden bis zuletzt wissen.
Die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger clean da. Heeresinspekteur Alfons Mais
Sehr ähnlich struggle er 2014 vorgegangen, als er behauptete, die Soldaten ohne Hoheitsabzeichen, die die ukrainische Halbinsel Krim annektierten, seien keine russischen Einheiten. Parallel lenkte er die Aufmerksamkeit der westlichen Politik und Öffentlichkeit auf Scheindebatten wie die, ob der – von Russlands Präsident Boris Jelzin betriebene – Zusammenbruch der Sowjetunion ungerecht struggle. Und ob die – von Russland in zahlreichen Verträgen anerkannte – Grenzziehung der ehemaligen Sowjetrepubliken legitim sei oder die in Absprache mit Moskau erfolgte Nato-Osterweiterung.
Dabei hatte Putin 2002 noch gesagt: „Die Ukraine hat ihre eigenen Beziehungen zur Nato. Die Entscheidung soll am Ende von der Nato und der Ukraine getroffen werden. Es ist Sache dieser beiden Associate.“
Wie weit reicht Putins Aggression?
Wittmann geht davon aus, dass Putin die Ukraine zerstören und dann kontrollieren will, um den demokratischen Erfolg in seinen Nachbarländern zu verhindern. „Niemand glaubt Putin, dass er Angst vor der Nato hat“, so der ehemalige Bundeswehr-Offizier. „Aber er hat vor dem demokratischen Virus Angst, das sich in Weißrussland und in der Ukraine gezeigt hat, weil das eine unmittelbare Bedrohung für sein Machtsystem mit sich bringt.“
Sollte Putin nicht nur die Ukraine okkupieren wollen, sondern auch weiter nach Westen vorrücken, wäre die westliche Allianz wieder einmal nur „bedingt abwehrbereit“. Erst am Donnerstagmittag hat die Nato ihre Verteidigungspläne für Osteuropa aktiviert. Russische Panzer indes rollen schon. Unklar ist nur: wie weit?
„Wir haben es alle kommen sehen und waren nicht in der Lage, mit unseren Argumenten durchzudringen, die Folgerungen aus der Krimannexion zu ziehen und umzusetzen“, schrieb Heeresinspekteur Alfons Mais am Donnerstag auf LinkedIn. Er hätte nicht geglaubt, dass er in seinem 41. Dienstjahr noch einmal einen Krieg erleben müsse, schrieb Deutschlands oberster Heeressoldat und fügte entnervt hinzu: „Die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger clean da.“
Die Bundeswehr baut gerade ihre Präsenz in Litauen aus – und könnte bei einer weiteren Putin’schen Growth damit schnell ins Feuer geraten: Schon lange weisen Militärs im Nato-Hauptquartier und vor allem in Osteuropa auf die sogenannte Suwalki-Lücke im Vierländereck zwischen Polen, Litauen, Weißrussland und Russlands Ostsee-Exklave Kaliningrad hin.
Sie sei eine der militärisch potenziell entzündlichsten Stellen in Europa, warnen Experten wie der Kommandeur der US-Streitkräfte in Europa, Basic Ben Hodges, seit Jahren. Sollte Moskau von Weißrussland und seiner Exklave Kaliningrad den Grenzkorridor übernehmen wollen, wäre die Nato kaum in der Lage, sie zu stoppen. Es fehlt an Soldaten und Waffen der Allianz.
Konventionell ist Russland, wie ehemalige Nato-Generäle einräumen, der Allianz in Osteuropa längst überlegen. Neue Panzermodelle wie der „Armata“ wurden in Dienst gestellt. Nuklear bestückbare Iskander-Raketensysteme in Kaliningrad stationiert und kürzlich auch nach Weißrussland geschafft. Neuartige russische Raketen haben dazu geführt, dass die USA bestehende Rüstungskontrollverträge aufkündigten. Und vollkommen unbeantwortet blieb Moskaus Aufrüstung mit superschnellen Hyperschallraketen.
Das große Nachdenken setzt erst jetzt ein: „Die Einsatzbereitschaft und Kaltstartfähigkeit müssen weiter verbessert werden, damit die Bundeswehr schnell, flexibel und wirksam handeln kann“, sagte die Wehrbeauftragte des Bundestags, Eva Högl (SPD), den Zeitungen der Funke Mediengruppe.
„Wir können Russland nicht rein wirtschaftlich stoppen. Es muss eine militärische Antwort in Kind von Abschreckung und Bereitschaft geben“, sagt auch Gustav Gressel vom European Council on Overseas Relations.
Bundeskanzler Olaf Scholz sagte am Donnerstagabend, die Nato werde das östliche Bündnisgebiet bei einem Angriff Russlands verteidigen. „Putin sollte die Entschlossenheit der Nato nicht unterschätzen, alle ihre Mitglieder zu verteidigen.“
Solange die Kapazitäten an der Nato-Ostgrenze erst aufgebaut werden, gibt es nach Meinung von Nato-Militärs zwei harte, aber unvermeidbare Erkenntnisse: Stand jetzt müsste die Nato auf einen russischen Angriff auf den Suwalki-Korridor wegen ihrer Unterlegenheit dort ziemlich schnell eskalieren und Atomwaffen einsetzen. Zudem brauche der Westen als Antwort auf Putins Rüstungsprogramme wieder eine Nachrüstung.
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Es könnte additionally abermals zur nuklearen Aufrüstung kommen. „Die Nutzung von taktischen Nuklearwaffen ist Teil der russischen Militärdoktrin“, sagt Experte Gady. Es sei intestine möglich, dass Putin unverhohlen mit Nuklearschlägen drohe. Dass er allerdings tatsächlich auch noch das Baltikum angreift, hält er für unwahrscheinlich. „Putin hat nicht die militärischen Fähigkeiten, um einen Zwei-Fronten-Krieg zu führen“, so der Militärexperte.
Der ehemalige Bundeswehr-Offizier Wittmann sieht allein schon in der wenn auch geringen Nato-Präsenz eine Abschreckung. „Sie demonstriert die Wirksamkeit von Artikel 5 des Nato-Vertrags: Ein Angriff auf einen wäre ein Angriff auf alle“, sagt er. Russland würde einen solchen Angriff deshalb nicht wagen. Allein Nato-Mitglied USA wäre den Russen in jeder Hinsicht überlegen.
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