Warschau Mit zwei schweren Angriffswellen auf die nur 340 Kilometer entfernte west-ukrainische Metropole Lwiw hat Russland den Auftritt von Joe Biden in Warschau begleitet. In der polnischen Hauptstadt hat der US-Präsident am Abend zu einem Ende der Herrschaft von Russlands Präsident Wladimir Putin aufgerufen: „Um Gottes Willen, dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben“, sagte er am Samstag zum Abschluss seines Besuchs in Warschau. Nur wenige Stunden vorher hatten russische Raketen und Artillerie die bisher schwersten Schläge gegen Lwiw ausgeführt – wohin hunderttausende Ukrainer geflüchtet waren und von wo aus viele Medienvertreter berichten.
Bidens Äußerungen sorgten am Abend für Verwirrung. Im Anschluss seiner Rede sah sich das Weißen Hauses dazu gezwungen klarzustellen, dass Biden in seiner Rede nicht zu einem Regimewechsel in Russland aufgerufen habe. Der US-Präsident habe mit seiner Äußerung „Putin kann nicht an der Macht bleiben“ gemeint, dass dieser keine Macht auf seine Nachbarländer oder die Area ausüben dürfe, sagt ein Sprecher des amerikanischen Präsidialamts. Biden habe nicht über Putins Macht in Russland oder einen Regimewechsel gesprochen. Es wurde zudem darüber spekuliert, ob Bidens Satz so zuvor im Redemanuskript stand oder ob der 79-Jährige ihn spontan hinzugefügt hat.
Biden stellte die Welt zudem auf einen langen Konflikt um die künftige internationale Ordnung ein. Es gehe um eine „große Schlacht zwischen Demokratie und Autokratie, zwischen Freiheit und Unterdrückung, zwischen einer regelbasierten Ordnung und einer, die von brutaler Gewalt bestimmt wird“, sagte Biden am Samstagabend. „Wir müssen dabei klar sehen: Diese Schlacht wird nicht in Tagen geschlagen werden oder in Monaten. Wir müssen uns für einen langen Kampf stählen.“
In seiner Rede warnte Biden den Kremlchef in deutlichen Worten: „Denken Sie noch nicht einmal daran“, schrie er förmlich in diesem Second auf, „einen einzigen Zentimeter auf Nato-Territorium zu gehen“. Diese beiden Ansagen sind eine deutliche Verschärfung in der Konfrontation gegenüber Russland.
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Biden steht damit in einer Reihe mit seinem Vor-Vorgänger Barack Obama: Der hatte im August 2012 den syrischen Diktator Bashar al-Assad mit einem Militärschlag gedroht, sollte dieser Chemiewaffen einsetzen. Obama hatte auch Assads Verbleib an der Macht infrage gestellt. Drei Jahre später schritt Russland im Syrien-Krieg auf der Seite Assads ein und eroberte mit seinen massiven Luftangriffen die Macht für den Diktator gegen die Rebellen zurück. Sie hatten zuvor Großteile des Levantestaats gehalten.
Nun hat Biden diese rote Linie an der Grenze des Nato-Territoriums gezogen. Doch im Ukraine-Krieg kommt Russland der Grenze zu Polen und damit zur westlichen Allianz gefährlich nahe. „Putin ist ein Spieler, der sehr hoch reizt und dem alles zuzutrauen ist“, sagte die ukrainische Vize-Außenministerin Emine Dschaparowa dem Handelsblatt auf dem Doha Discussion board in der Hauptstadt Katars. Sie warnte, wie auch Biden, vor einem russischen Chemiewaffeneinsatz in ihrem Land.
Biden hatte für diesen Fall bereits vor einigen Tagen heftige Gegenreaktionen des Westens angekündigt. Ohne diese jedoch genau zu umschreiben.
Kreml verärgert über Biden-Äußerungen
Der US-Präsident begibt sich damit auf einen gefährlichen Kurs: Er gibt Putin das Heft des Handelns in die Hand und müsste scharf reagieren, wenn der Kremlherr die von ihm aufgezeigten roten Linien bewusst, wenn auch nur temporär, überschreitet. Ansonsten wird er seine in den letzten Monaten gestärkte Rolle als Führer des Westens schnell verlieren und auch innenpolitisch wieder stark unter Druck geraten. Putin könnte sich nun umso stärker zu einer politischen oder militärischen Grenzverletzung versucht fühlen.
Dazu machte Putins Sprecher Dmitri Peskow gleich nach Bidens Rede klar, wie sehr die russische Führung verärgert ist über Bidens Bezeichnung Putins als „Schlächter“: Diese „persönlichen Beleidigungen schließen jedes Mal das Fenster der Möglichkeiten für unsere bilateralen Beziehungen unter der derzeitigen Regierung“, sagte der Kreml-Sprecher der Nachrichtenagentur Tass.
Politische Beobachter auf dem Doha Discussion board, einer führenden globalen Außenpolitik-Konferenz, äußerten die Sorge, ob ein angeschlagener und geschwächter Putin nicht noch gefährlicher und unberechenbarer werde. Denn nach den immer neuen militärischen Rückschlägen bei seinem Überfall auf die Ukraine kommt der russische Präsident immer stärker unter Druck und könnte einen brandgefährlichen Befreiungsschlag versuchen: „Ist Russlands Starvation wirklich mit der Ukraine gestillt?“ Das fragte der per Video nach Doha zugeschaltete ukrainische Präsident Wolodimir Selenski und warnte vor einem russischen Atom- oder Chemiewaffeneinsatz.
Zwar machte Biden auch klar, dass „ihr, das russische Volk, nicht unser Feind seid“. Doch mit dem direkten verbalen Angriff auf Putin hat er sich gefährlich weit hinausgewagt.
Flüchtlinge sollten Verantwortung der ganzen Nato sein
Bei Bidens Besuch in Polen ging es außerdem um das Thema Flüchtlinge. Der US-Präsident bedankte sich für die Aufnahme der Geflüchteten aus der Ukraine. „Wir erkennen an, dass Polen eine große Verantwortung übernimmt, die meiner Meinung nach nicht nur Polen betreffen sollte. Es sollte die Verantwortung der ganzen Welt, der ganzen NATO sein“, sagte der US-Präsident. „Die Tatsache, dass so viele Ukrainer in Polen Zuflucht suchen, verstehen wir, weil wir an unserer Südgrenze täglich Tausende von Menschen haben, die (…) versuchen, in die Vereinigten Staaten zu gelangen.“
Wegen der harten westlichen Sanktionen wird sich die russische Volkswirtschaft nach Ansicht von US-Präsident Biden in den kommenden Jahren „halbieren“. Vor dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine sei Russland die elftgrößte Volkswirtschaft weltweit gewesen, bald werde Russland kaum noch unter den 20 Größten sein, sagte Biden am Samstag in Warschau zum Abschluss eines zweitägigen Besuchs in Polen.
Die Sanktionen seien so wirksam, dass sie der „militärischen Macht“ Konkurrenz machten. Die wirtschaftlichen Kosten untergraben auch das russsische Militär, wie Biden weiter sagte. „Als Folge dieser beispiellosen Sanktionen wurde der Rubel quick sofort in Schutt und Asche gelegt“, sagte Biden mit Blick auf die dramatische Abwertung der russischen Landeswährung. „Die Wirtschaft läuft darauf zu, in den kommenden Jahren halbiert zu werden“, sagte er.
Mit Materials von Reuters und dpa.
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