Boris Pistorius will die Bundeswehr kriegstüchtig machen und braucht dafür mehr Soldaten. Kann sein neuer „Auswahl-Wehrdienst“ Abhilfe schaffen? Der frühere Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels ist skeptisch – und wirft dem Minister vor, „lieber kleine Brötchen zu backen“.
Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) hat am Mittwoch seine Wehrdienstpläne vorgestellt. Das Modell basiert im Kern auf einem Online-Fragebogen, den künftig alle 18-Jährigen erhalten sollen. Darin sollen sie Fragen zu ihren Fähigkeiten und ihrem Interesse an der Bundeswehr beantworten. Aus dem Pool der Interessierten sollen am Ende rund 5.000 Wehrdienstleistende jährlich herausgefiltert werden. Dieser „Auswahl-Wehrdienst“ betont vor allem die Freiwilligkeit und enthält nur wenige Pflichtelemente (hier erfahren Sie mehr über Pistorius‘ Pläne).
Der Vorstoß war mit Spannung erwartet worden. Immer wieder wurde die Ankündigung verschoben, immer wieder versuchten Kritiker in eigenen Ampel-Reihen Pistorius‘ Pläne durch öffentliche Äußerungen zu beeinflussen. Und nun, ist es der große Wurf? Der ehemalige Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestags, Hans-Peter Bartels, ist skeptisch. Im Interview mit t-online nennt Bartels mehrere Schwachstellen des Modells – und kritisiert auch den Minister selbst.
t-online: Herr Bartels, Verteidigungsminister Boris Pistorius will einen Wehrdienst einführen, der weitgehend auf Freiwilligkeit basiert. Das richtige Modell zur richtigen Zeit?
Hans-Peter Bartels: Die Zeit wäre jetzt reif, sogar überreif für eine große Lösung des riesigen Personalproblems der Bundeswehr. Aber Pistorius sagt selbst, dass sein vorgeschlagener Pflichtfragebogen erstmal nicht mehr ist als ein erster Schritt. Die Widerstände in der eigenen Regierungskoalition scheinen ihn ziemlich lahmzulegen. Das betrifft übrigens auch das Thema Geld, nicht nur die Wehrpflicht. Freiwilligkeit klingt nett, aber das Grundproblem bleibt so ungelöst.
Was ist das Grundproblem?
Unsere Bundeswehr ist heute zu klein, sie ist kleiner als nach der letzten Schrumpfreform von 2011, als es 185.000 aktive Soldatinnen und Soldaten geben sollte. Und das waren noch ganz andere Zeiten. Damals wurde die Wehrpflicht ausgesetzt. Da bedeutete im „Ernstfall“, ein paar tausend Männer und Frauen nach Afghanistan oder Mali zu schicken. Heute beträgt die Iststärke 181.000. Aber inzwischen geht es um die Abschreckung eines hochgerüsteten Gegners in Europa, es geht um Bündnisverteidigung mit der ganzen Bundeswehr.
Hans-Peter Bartels war von 1998 bis 2015 SPD-Bundestagsabgeordneter. Dann wurde er zum Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages ernannt und behielt dieses Amt bis 2020. Seit Mai 2022 ist er Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik.
Ist der Pistorius-Plan eine angemessene Antwort darauf?
Ob nach der Fragebogenreform mit ihrem Minimalziel, zusätzliche 5.000 Grundwehrdienstleistende zu gewinnen, nun 181.000 oder 186.000 Soldaten Dienst tun, ändert wenig an den hohlen Strukturen, die sich durch unsere Streitkräfte ziehen. Die offizielle Sollstärke liegt mittlerweile bei 203.000, der tatsächliche Personalbedarf aber nach unseren Zusagen an die Nato bei mindestens 240.000. Wir gewinnen dramatisch zu wenig Personal.
Der Verteidigungsminister hat eine interessante Zahl gesagt: 460.000. So viele Soldaten bräuchte die Bundeswehr im Verteidigungsfall. Der könnte laut Schätzungen seines Hauses schon im Jahr 2029 eintreten, sollte Russland die Nato militärisch testen. Hilft der neue Wehrdienst, Deutschland verteidigungsfähiger zu machen?
Von „Kriegstüchtigkeit“ sind und bleiben wir meilenweit entfernt. Wenn das Verteidigungsministerium aktuell mit 200.000 aktiven Soldaten und 260.000 Reservisten kalkuliert, dann bräuchte es jetzt eine große Reform, kein „Weiter so“ im üblichen Klein-Klein.
Pistorius hat selbst gesagt, dass er sich eigentlich mehr wünscht, mindestens 20.000 Wehrdienstleistende pro Jahr.
Ja, das wäre der Gamechanger: die Zahl der jährlich gewonnenen Rekruten von heute 20.000 auf 40.000 verdoppeln. So käme Aufwuchsdynamik ins System. Zeitenwende müsste eigentlich heißen: groß denken, schnell sein, fertig werden. Doch das wird wohl in dieser Legislaturperiode nichts mehr.
Können Sie dem Vorstoß auch etwas Gutes abgewinnen?
Schon mal anfangen ist besser als nichts. Pistorius legt die Basis für eine echte Wehrpflicht zu einem möglichen späteren Zeitpunkt: Indem er die Wehrerfassung vorantreibt und ein paar mehr junge Leute jedenfalls schon mal gemustert werden. Der freiwillige Wehrdienst selbst ist nichts Neues: Den gibt es schon jetzt für jährlich bis zu 10.000 Freiwillige, die 6 bis 23 Monate dableiben. Zusätzliche 5.000 sind da ein weiterer Tropfen auf dem heißen Stein.