Wir wissen nicht, ob die kaum verhohlene Forderung des US-Präsidenten nach einem „Regime-Change“ in Moskau ein sprachlicher Lapsus warfare oder ein sorgfältig geplanter Versuchsballon. Der auf Wladimir Putin gemünzte Satz von Joe Biden („Um Gottes Willen, dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben“) zeugt in jedem Fall vom neuen Selbstbewusstsein des Westens.
Russland wird den Krieg in der Ukraine verlieren, so lautet inzwischen die vorherrschende Ansicht in den Hauptstädten der Nato-Mitglieder. In seiner Warschauer Rede vom Wochenende brachte Biden diese These auf den Punkt: „Die Ukraine wird niemals ein Sieg für Russland sein.“
Die Hauptsorge des Westens lautet mittlerweile: Wie lässt sich verhindern, dass Putin im Strudel seines eigenen Untergangs Hunderttausende oder gar Millionen von Ukrainerinnen und Ukrainern in den Tod reißt, indem er ganze Städte dem Erdboden gleichmacht oder gar Chemiewaffen einsetzt? Tatsächlich hat Putin viele Faktoren falsch eingeschätzt. Die russische Armee ist weniger einsatzbereit, als ihm mutmaßlich seine Generäle eingeflüstert haben.
Auch dank westlicher Waffenlieferungen leistet die Ukraine unerwartet heftigen Widerstand. Die Wirtschaftssanktionen gegen Russland sind deutlicher ausgefallen, als die Kreml-Strategen eingepreist haben dürften. Doch hinter der Vorstellung einer bevorstehenden russischen Niederlage in der Ukraine oder gar eines Machtwechsels in Moskau steckt viel Wunschdenken.
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Der Westen ist stolz auf seine Geschlossenheit und Handlungsfähigkeit, die er in der Krise unter Beweis gestellt hat. Und nun wollen wir, dass sich diese Leistung bitte schön auch auszahlt, dass das Gute siegt und das Böse verliert.
Die Realität folgt allerdings nur selten dem typischen Verlauf von Hollywood-Drehbüchern. Sofern Putin seine Ziele klug an die neuen Realitäten anpasst, vermag auch er noch mit einem Ergebnis aus diesem Krieg herauszukommen, das die Kreml-Propagandisten als russischen Sieg verkaufen können.
Dass dieses Umdenken in Moskau bereits begonnen hat, zeigte sich am vergangenen Freitag: Der Vizechef des russischen Generalstabs, Sergej Rudskoj, sagte, man werde die militärischen Anstrengungen nun auf das „Erreichen des Hauptziels“ richten – „die Befreiung des Donbass“. Sofern Rudskoj damit die offizielle Place Moskaus wiedergibt, hat sich Putin von der Idee verabschiedet, die gesamte Ukraine in einen russischen Vasallenstaat zu verwandeln.
Gleichzeitig erscheint es unrealistisch, dass sich die russischen Truppen militärisch aus den derzeit besetzten Gebieten im Südosten der Ukraine (von denen die Donbass-Area einen Teil ausmacht) vertreiben lassen. Dazu fehlt es der Ukraine an schweren Offensivwaffen.
Wenn Putin einen Waffenstillstand erreicht, mit dem er faktisch einen mehr oder weniger großen Teil aus der Ukraine herauslöst; wenn er zudem durchsetzt, dass Kiew wie bereits angeboten das Ziel einer Nato-Mitgliedschaft aufgibt – dann hätte er mit seinem Angriffskrieg zwei Etappenziele seiner Großmachtträume erreicht, die ihm auch innenpolitisch beim Überleben helfen werden. Dass er für dieses Ziel Tausende von Menschenleben geopfert und die Wirtschaft seines Landes ruiniert hat, magazine uns im Westen als aberwitzig hoher Preis erscheinen. In der Logik eines Wladimir Putin ist das nicht zwangsläufig so.
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