Die rechtsextreme Gewalt nimmt deutlich zu. Junge Neonazis eifern ihren Vorbildern aus den 90er-Jahren nach. Eine Expertin sieht erschreckende Parallelen.
Es sind alarmierende Zahlen, die das Bundeskriminalamt (BKA) kürzlich vorgelegt hat: Die Zahl rechtsextremistisch motivierter Straftaten ist im vergangenen Jahr um 48 Prozent gestiegen, die Zahl der Gewaltverbrechen aus diesem Spektrum um gut 17 Prozent auf 1.488 Delikte. „Die größte Gefahr für die Demokratie geht vom Rechtsextremismus aus“, erklärte Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) bei der Vorstellung der Zahlen Anfang vergangener Woche.
Noch bedrohlicher ist die Lage nach Einschätzung des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e.V. (VBRG). Der bundesweit aktive Verband erfasste gar 3.453 rechtsextremistisch motivierte Gewalttaten und damit einen Anstieg von 24 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die Diskrepanz zur BKA-Statistik ergibt sich daraus, dass der VBRG zum Teil auch Nötigungen und Bedrohungen erfasst und auch solche Fälle in die Statistik einfließen lässt, die sich erst im Verlauf der Ermittlungen als rechtsextremistisch motiviert herausstellen.
Besorgnis erregen aber nicht allein die Zahlen. Die Gewalt von rechts scheint auch eine neue Qualität zu erreichen. Beobachter sehen Parallelen zu den 1990er-Jahren und warnen vor einer Rückkehr der sogenannten „Baseballschlägerjahre“. Darüber sprach t-online mit der Geschäftsführerin des VBRG, Heike Kleffner.
Heike Kleffner ist Geschäftsführerin des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e. V. Die Journalistin schreibt für verschiedene Medien über rechtsextremistische Gewalt und hat dazu schon mehrere Bücher veröffentlicht.
t-online: Frau Kleffner, sind die „Baseballschlägerjahre“ zurück?
Heike Kleffner: In den vergangenen fünf Jahren etwa ist ein Spektrum von sehr jungen, sehr militanten und sehr aktions- und gewaltorientierten Neonazis herangewachsen. Und die beziehen sich tatsächlich eins zu eins auf die „Baseballschlägerjahre“.
Zum Beispiel in ihren Gewaltformen. Die „Baseballschlägerjahre“ waren auch ein Jahrzehnt tödlicher Brandanschläge. Und die Zahl der von den Opferberatungsstellen registrierten Brand- und Sprengstoffanschläge ist 2024 im Vergleich zum Vorjahr von 25 auf 45 gestiegen.
Bislang ohne Tote. Hatten wir bisher einfach Glück, dass es nicht dazu kam?
Absolut. Diese neue Generation junger Täter hat offenbar keine Hemmungen, Menschenleben zu gefährden. In Mücheln in Sachsen-Anhalt beispielsweise: Die Ermittlungsbehörden gehen davon aus, dass mutmaßlich jugendliche Neonazis aus Anlass des Geburtstags von Adolf Hitler am 20. April 2024 zwei Sprengsätze in einem Mehrfamilienhaus zündeten. Dort lebten zum Tatzeitpunkt 30 Asylsuchende und ausländische Arbeitskräfte. Wer einen selbst gebauten Sprengsatz in einem bewohnten Gebäude zündet, nimmt in Kauf, dass Menschen verletzt werden oder schlimmstenfalls jemand stirbt.
Geht der Staat hart genug gegen die Täter vor?
Das hängt sehr vom jeweiligen Bundesland ab. In Ländern wie Bayern mit einer Schwerpunktstaatsanwaltschaft sehen wir eine effektivere Strafverfolgung. Deshalb fordern wir auch, dass solche Schwerpunktstaatsanwaltschaften in jedem Bundesland eingerichtet werden. In Thüringen und Sachsen beispielsweise musste der Generalbundesanwalt Ermittlungsverfahren wie gegen die „Sächsischen Separatisten“ oder die kürzlich verbotene „Letzte Verteidigungswelle“ an sich ziehen, weil sie dort nie als Netzwerke verfolgt wurden.
- Schlag gegen rechtsextreme Jugendliche: Wie gefährlich ist die „Letzte Verteidigungswelle“?
Hintergrund dieser Möglichkeit ist die Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU).
Und das ist auch gut so. Andererseits ist es dramatisch, dass insbesondere in Sachsen die Justiz die Verfahren rechtsextremer Gewalt immer wieder verschleppt. Dabei muss gerade im Jugendstrafrecht die Strafe auf den Fuß folgen. Sonst lernen die Täter und diese nachwachsende Generation von Neonazis, dass sie auch mit schwersten Gewalttaten davonkommen. Die Opfer bleiben dagegen mit dem Gefühl zurück, dass der Rechtsstaat sie im Stich lässt. Diese Straflosigkeit ist auch eine Wiederholung aus den 90er-Jahren.

In Netzwerken wie TikTok werben ältere Neonazis jüngere an. Sind die Täter von heute womöglich die Kinder der Täter von damals?
Die Vermutung liegt natürlich nahe. Bei zwei mutmaßlichen Mitgliedern der „Sächsischen Separatisten“ ist auch bekannt, dass ihr Vater in den 90er-Jahren in der österreichischen Neonaziszene aktiv war. Generell kann ich dazu aber keine seriöse Antwort geben.
- Neo-Nazis rekrutieren auf TikTok: Tödliche Vorbilder
Gehören also bald wieder Springerstiefel und Bomberjacken zu unserem Straßenbild?
In den kleineren Orten ist diese Ästhetik schon wieder zu sehen, auch bei den jüngsten Angriffen auf Jugendclubs in Cottbus und Senftenberg. Neulich war ich in Magdeburg, wo es zwar immer Reste dieser Neonazi-Mode aus den 90er-Jahren gab, aber auch da nimmt es zu. Und wenn niemand die Jugendlichen darauf anspricht und zum Beispiel sagt, „zieh das Zeug aus, wenn du in den Club willst“, dann entfaltet das die gleiche Wirkung wie in den 90ern. Sie erzeugen den Eindruck von Dominanz und verbreiten Angst.