Frankfurt Der 22. Juni 2020 war ein schwarzer Tag für die Anleger von Wirecard. Damals wurde bekannt, dass in der Bilanz des Zahlungsdienstleisters ein 1,9 Milliarden Euro tiefes Loch klaffte. Binnen Stunden wurde der Aktienkurs genauso pulverisiert wie die Werte der Anleihen und Zertifikate. Wirecard musste Insolvenz anmelden.
Privatanleger verloren teils Tausende Euro. Um nun eine Entschädigung zu erhalten, müssen sie selbst aktiv werden, denn Ende 2023 verjähren die Ansprüche. Weil bei Wirecard bereits die Gläubiger Schlange stehen, konzentrieren sich die Anlegeranwälte auf den Wirtschaftsprüfer EY, der die falschen Zahlen jahrelang testiert hatte.
Dabei gibt es für geschädigte Anleger und Anlegerinnen gleich mehrere Strategien – doch sie müssen sich für einen Weg entscheiden. Denn die Zeit drängt. Nur noch bis Ende Mai können sie sich der Stiftungslösung anschließen, bis Mitte Juni ist noch der Klageweg mit einem Prozessfinanzierer möglich und bis Mitte September die Anmeldung zum Musterverfahren. Einige Möglichkeiten sind kostenlos, andere nicht. Welcher Weg am sinnvollsten ist, hängt daher auch von der Schadenhöhe ab.
Musterverfahren: Lange Verfahrensdauer
Aufgrund der Fülle der bereits eingegangenen Klagen gegen EY hat das Bayerische Oberste Landesgericht in München ein Kapitalanlegermusterverfahren gegen EY Deutschland, einige EY-Prüfer sowie Wirecard-Vorstände eingeleitet (Az. 101 Kap 1/22). Im Zuge dessen wurden alle laufenden Verfahren ausgesetzt.
In dem Verfahren wird geklärt, ob Wirecard-Anleger Anspruch auf Schadenersatz haben und wie dieser berechnet wird. Hinterher muss jeder Anleger auf Basis dieses Urteils seinen individuellen Schaden geltend machen. Möglich ist auch, dass EY einen Vergleich anbietet. Jeder Anleger kann selbst entscheiden, ob er diesen annimmt oder auf eigene Kosten weiterklagt. Eine Anmeldung zum Musterverfahren ist bis zum 18. September 2023 möglich.
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Chancen: Die Erfolgschancen sind größer als bei Einzelklagen, denn Klägeranwälte tun sich zusammen, bündeln ihr Wissen und ihre Expertise.
Risiken: Musterverfahren dauern oft sehr lange. Die Forderungen dürften sich auf über eine Milliarde Euro summieren. Es ist unklar, ob EY das in voller Höhe bezahlen kann oder ob die Anleger nur anteilig entschädigt werden.
Kosten: Im Vergleich zur Einzelklage ist das Musterverfahren deutlich günstiger. Aber auch hier muss die Anmeldung durch einen Anwalt erfolgen. Bei einem Schadenersatzanspruch von 500 Euro beträgt die Gebühr gut 400 Euro, bei 10.000 Euro sind es knapp 750 Euro. Aufgrund der zu erwartenden Verfahrensdauer ist es sinnvoll, parallel die sogenannte Inverzugsetzung zu beantragen. Dadurch stehen den Anlegern bis zum möglichen Ausgleich des Schadenersatzanspruchs Zinsen von fünf Prozent plus Basiszins pro Jahr zu. Die Inverzugsetzung kostet gut 100 Euro zusätzlich.
Prozessfinanzierer: Hohe Erfolgsbeteiligung
Die britische Kanzlei Pinsent Masons hat sich mit dem Prozessfinanzierer Litfin zusammengetan und bietet kostenlose Klagen gegen EY an, wobei der Mindestschaden 20.000 Euro betragen muss. Die Anlegervereinigung SdK bewirbt das Modell. Litfin kassiert nur im Erfolgsfall 18 bis 21 Prozent Erfolgsprovision der Entschädigung, egal ob gerichtlich oder außergerichtlich festgesetzt. Eine Anmeldung ist noch bis 15. Juni 2023 möglich.
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Chancen: Siehe Musterverfahren.
Risiken: Anleger gehen hier eine Wette ein. Wer glaubt, dass EY nicht oder nur sehr wenig zahlt, für den lohnt sich Litfin. Ein Rechenbeispiel: Die reguläre Anmeldung zum Musterverfahren kostet bei 20.000 Euro eine Anmeldegebühr von 1000 Euro. Zahlt EY den kompletten Schaden, kassiert Litfin 4000 Euro. EY müsste also weniger als 5000 Euro Entschädigung zahlen, damit die Litfin-Kläger einen besseren Schnitt machen als diejenigen, die sich selbst im Musterverfahren angemeldet haben.
Kosten: Keine.
Stiftung: Juristisches Neuland
Die „Stichting Wirecard Investors Claim“ strebt einen außergerichtlichen Vergleich an. Parallel werden zwecks Verjährungshemmung Klagen gegen EY eingereicht. Alle Kosten übernimmt die Stiftung, im Erfolgsfall erhält sie 25 Prozent. Die Anlegervereinigung DSW empfiehlt die Stiftung. Eine Anmeldung ist bis zum 31. Mai 2023 möglich.
Chancen: Stiftungslösungen konnten in der Vergangenheit bereits Erfolge vorweisen, wie etwa bei Fortis Bank, Unilever oder Shell. Die Stiftung möchte auch andere EY-Gesellschaften in einen Vergleich miteinbeziehen. So besteht die theoretische Chance, dass Anleger mehr Schadenersatz zugesprochen bekommen als im Musterverfahren. Außerdem könnte ein Vergleich schneller abgeschlossen werden als im Musterverfahren.
Risiken: Anders als im Musterverfahren können Anleger einen Vergleich nicht ablehnen. Tun sie es doch, müssen sie nachträglich ihre anteiligen Kosten der Stiftung tragen. Kommt es zu keinem Vergleich, will die Stiftung den Klageweg verfolgen, könnte sich also im Musterverfahren wiederfinden.
Kosten: Keine
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