Limburg (Lahn) Der Mann, der gerade einen orangen Gabelstapler an Paletten und Industrierobotern vorbeisteuert, hat Glück, dass ihn seine Chefin nicht sieht. Denn durch die Blechwarenfabrik Limburg, die Annika Roth mit ihrem Bruder Hugo Trappmann leitet, gleiten die Fahrzeuge sonst autonom. „Das verhindert Unfälle“, sagt die 31-Jährige, „und unnötige Umwege.“
Das 151 Jahre alte Familienunternehmen, dessen Name eher nach angerosteter Fabrikfertigung klingt, ist in Wahrheit eine „riesige Maschine mit Gebäudehülle“, wie Roth es beschreibt.
„Unser Materialfluss ist zu 100 Prozent automatisiert. Genau wie das Energiemanagement des Gebäudes“, sagt die studierte Betriebswirtin Roth, seit 2020 in der Geschäftsführung.
So schalten sich die LED-Lichter je nach Tageszeit oder per Bewegungssensor ein und aus. Fließt viel Grünstrom von der Solaranlage auf dem Dach, steigert das Werk die Produktion. Das spart Kosten. Verstummen am Abend die Maschinen, wird es automatisch dunkel.
Mit der „konsequenten Digitalisierung“ der Produktion sowie Energie- und Materialeffizienz spare das Unternehmen heute fast sechs Gigawattstunden (GWh) Strom und Gas pro Jahr.
Die Familie hat für den Neubau der Fabrik im Jahr 2016 auf Lichtschalter, Heizung oder Klimaanlage verzichtet. Für eine konstante Temperatur von 20 Grad sorgt die Abwärme aus dem Lackierofen, die von Aluminiumrohren verteilt wird. Im Sommer wandelt ein Wärmetauschsystem die Hitze in Kälte um.
Das Familienunternehmen in Limburg zeigt, was in Sachen Energieeffizienz möglich wäre – eigentlich. Denn die Realität in Deutschland sieht anders aus.
„Energieeffizienz wird seit Dekaden völlig stiefmütterlich behandelt“, ärgert sich Christian Noll, geschäftsführender Vorstand der Deutschen Unternehmensinitiative Energieeffizienz (Deneff). Dabei könnten Einsparungen in Unternehmen „ein Vielfaches“ der umstrittenen drei Atomkraftwerke, die derzeit über das gesetzlich festgelegte Ausstiegsdatum hinaus am Netz sind, ausgleichen, so Noll. Etwa durch effizientere Antriebe, Beleuchtung, Lüftungs- oder Druckluftsysteme.
Endenergieverbrauch ist ähnlich hoch wie 1990
Doch die politische Debatte kreist vor allem darum, wie neue Energiequellen russische Gasimporte ausgleichen. Und nicht darum, wie sich Energie einsparen lässt. „Natürlich brauchen wir dringend mehr Erneuerbare. Aber wer nur auf die Energieerzeugung blickt, ändert nichts am Verbrauch.“ Der werde „von vielen als gottgegeben“ hingenommen, moniert Noll.
Wie viel Energie Deutschland verschwendet, weiß Matthias Weyland vom Umweltbundesamt (UBA). Demnach stagniere der Endenergieverbrauch „im Wesentlichen seit 1990“ und liege „fernab aller Zielpfade“. Als Endenergieverbrauch wird die Menge an Energie bezeichnet, die tatsächlich beim Verbraucher ankommt.
1990 waren das rund 2600 Terawattstunden (TWh), 2021 immer noch rund 2400 TWh. „In mehr als 30 Jahren wurden nicht einmal zehn Prozent eingespart, das ist ein Armutszeugnis“, sagt Weyland. Beim Primärenergieverbrauch, also den Mengen Kohle, Windkraft oder Erdgas, die für die Energieerzeugung verwendet werden, sieht es nur wenig besser aus. Hier ist der Verbrauch gegenüber 1990 zwar um rund 18 Prozent gesunken, aber 2021 im Vergleich zum Vorjahr dafür wieder um drei Prozent auf rund 3400 TWh gestiegen.
Damit sind Industrie wie Verbraucher weit entfernt von den Einsparpfaden der Bundesregierung: Bis 2030 soll der Endenergieverbrauch in Deutschland im Vergleich zu 2008 um 24 Prozent auf 1942 TWh sinken. So steht es im Entwurf des Energieeffizienzgesetzes (EnEfG) von Januar, der dem Handelsblatt vorliegt.
Die Differenz zum Zielpfad lag im Jahr 2021 also bei rund 224 TWh. Das ist fast so viel wie der gesamte Energieverbrauch Ungarns.
Der Primärenergiebedarf soll laut Entwurf bis zum Jahr 2045 gar um 57 Prozent im Vergleich zu 2008 sinken auf 1600 TWh. Selbst wenn man das weniger ambitionierte Ziel von rund 2800 TWh bis 2030 aus der Energieeffizienzstrategie der vergangenen Legislatur zugrunde legt, beliefe sich der Mehrverbrauch 2021 auf 161 TWh. Das ist etwa die Hälfte des deutschen Primärenergieverbrauchs durch Braunkohleverstromung.
Kein Wunder. Denn laut Weyland würden Effizienzmaßnahmen „wenn überhaupt, völlig unzureichend“ umgesetzt. Etwa in Gebäuden. Laut Berechnungen der Deneff sind in den vergangenen zehn Jahren „allein durch ineffizient betriebene Gebäudetechnik unnötige Energiekosten von mindestens 50 Milliarden Euro“ entstanden und jährlich etwa zehn Millionen Tonnen CO2. Dabei ließen sich im Gebäudebetrieb „mit einfachen technischen Maßnahmen“ wie richtig eingestellten Heizungsanlagen bis zu 15 Prozent Energie einsparen.
Annika Roth bleibt vor einem digitalen Kontrollbildschirm stehen. Die Sensoren schlagen Alarm, sobald der Energieverbrauch einer Produktionslinie höher ist als üblich. So können Techniker Defekte gleich beheben. Im alten Werk blieben Störungen mitunter Wochen unentdeckt. Weil viel Verbrauch viel Geld kostet, lief Roth montags mit einer Excel-Liste durch die Halle und überprüfte die Maschinen einzeln.
Mit der „konsequenten Digitalisierung“ der Produktion sowie Energie- und Materialeffizienz spare das Unternehmen heute im Vergleich zum alten Standort 2600 Tonnen CO2 und fast sechs Gigawattstunden (GWh) Strom und Gas pro Jahr. Zum Vergleich: Eine große Windenergieanlage produziert etwa eine GWh Strom im Monat.
Dem Unternehmen bleibt so jedes Jahr eine halbe Million Euro mehr. Der von Vater Hugo Trappmann eingeleitete Umzug sei dafür unausweichlich gewesen, erinnert sich Roth. Das alte, verwinkelte und mehrgeschossige Fabrikgebäude im Zentrum Limburgs hätte sich nicht mehr energetisch sanieren lassen. „Wären wir beim Alten geblieben, hätten wir die Energiekrise wohl nicht überlebt.“
Auch im Rest des Landes müssen die Verbräuche zwingend sinken, sonst reißt Deutschland seine Klimaziele. Doch Energieverschwendung zieht sich durch alle Sektoren.
Als großes Effizienz-Sorgenkind gilt der Gebäudebestand, hierzulande für jährlich rund 20 Prozent der energiebedingten CO2-Emissionen verantwortlich. Genau wie der Verkehrssektor. Was Motoren einsparen konnten, haben schwerere Autos mit viel Materialverbrauch wieder aufgefressen. „Effizienz ist ein Querschnittsthema“, wie Experte Weyland betont. Doch sind alle zuständig, ist es keiner.
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Damit sich das ändert, brauche es dringend verbindliche Regelungen und Ziele. Eine Umkehr von den Postulaten diverser Bundesregierungen hin zu echten Einsparungen könnte das Energieeffizienzgesetz bringen.
Schon am Tag nach dem Machtwort von Kanzler Olaf Scholz (SPD) im Streit um längere AKW-Laufzeiten Mitte Oktober hatte das Wirtschaftsministerium einen Referentenentwurf vorgelegt. Mit dem Gesetz werde „erstmals ein sektorübergreifender rechtlicher Rahmen zur Steigerung der Energieeffizienz geschaffen“, heißt es in dem Entwurf. Nach fünf Monaten soll das Papier Mitte März endlich ins Kabinett kommen.
Bislang habe sich Effizienzpolitik vor allem darauf beschränkt, Gelder in Förderungen etwa für gedämmte Neubauten zu pumpen. Oder sich auf freiwilliges Engagement von Unternehmen, Gebäudebetreibern oder Privatleuten zu verlassen, moniert Weyland. Doch auch viele Milliarden konnten die Sanierungsquote „nicht zielkompatibel“ erhöhen, die bei etwas mehr als einem Prozent stagniert.
Auch wegen Fehlanreizen wie dem „Investor-Nutzer-Dilemma“: Warum sollten Vermieter effizientere Heizungen einbauen, wenn Mieter die Heizkosten tragen? Umso mehr begrüßt Weyland, wenn ab 2024 neue Gas- und Ölheizungen ohne Erneuerbaren-Anteil verboten werden. Das reduziere nicht nur CO2. Wärmepumpen benötigten auch wesentlich weniger Energie.
Die Deneff fordert zudem, Fördermaßnahmen für Gebäude stärker an konkrete Messungen zu koppeln. Auch Lamia Messari-Becker, Bauingenieurin von der Universität Siegen, sagt, „dämmen allein hilft nichts“, ohne den Energieverbrauch zu überwachen. „Bleiben Heizungen falsch eingestellt, ist nichts gewonnen.“
Seit Jahren stagniere der Energiebedarf bei durchschnittlich 130 Kilowattstunden pro Quadratmeter beheizter Wohnfläche und Jahr. Und das trotz Investitionen von 340 Milliarden Euro in energetische Sanierungen, so Messari-Becker. „Da läuft offenbar etwas schief.“
Der Elysée-Palast zieht Wärme aus der Kanalisation
Ohnehin ist die beste Energie die, man nicht neu erzeugen muss. Die Firma Uhrig aus dem schwäbischen Geislingen hat aus diesem Credo ein Geschäft gemacht und schickt ihre Mitarbeiter in die Kanalisation. Denn „selbst im Winter hat das Abwasser dort eine Temperatur von 12 bis 20 Grad“, sagt Stephan von Bothmer, Energie-Geschäftsführer beim Kanalbauer.
Uhrigs in Kanälen verbaute Wärmetauscher nutzen das darin einfließenden Dusch-, Bade- oder Spülwasser, um einen separaten Wasserkreislauf zu erhitzen. Dieses Wasser gelangt über Rohre zurück ins Quartier, wo eine Wärmepumpe damit heizt. „Das ist hocheffizient und eine fantastische heimische Wärmequelle“, sagt von Bothmer. „Ähnlich wie Geothermie, nur ohne teuren Bohraufwand.“
120 Anlagen hat Uhrig bereits in Europa installiert. Sie können heizen wie kühlen. Etwa die Zalando-Zentrale in Berlin oder Teile des Elysée-Palasts in Paris. Studien bestätigen das Potenzial von Abwasser als Energiequelle. So attestiert das Institut für Energie- und Umweltforschung Heidelberg (ifeu) ein Potenzial „für Raumwärme und Brauchwasser“ von bis zu fünf Prozent des gesamten Nutzwärmebedarfs im deutschen Gebäudebestand.
Rund 4,4 Millionen Tonnen Treibhausgasemissionen ließen sich damit einsparen. Für London schätzt der dortige Kanalnetzbetreiber das jährliche Abwasser-Energiepotenzial gar auf zehn TWh – das entspricht Deutschlands Geothermie-Ziel bis 2030.
Annika Roth verlässt die Fabrik. Sie sagt, „wir haben nicht in Effizienz investiert, weil wir Weltretter sind. Sondern weil es wirtschaftlich fahrlässig wäre, das nicht zu tun.“
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