In der Debatte um die öffentlichen Finanzen gibt es eine oft übersehene Kluft: Der deutsche Staat hat das abgelaufene Jahr mit einem Defizit von gut 100 Milliarden Euro abgeschlossen. Die Defizitquote betrug damit 2,6 Prozent, womit Deutschland erstmals seit dem Coronaausbruch Anfang 2020 wieder die Drei-Prozent-Grenze der europäischen Verträge einhielt.
Kaum bekannt ist, dass es ausschließlich der Bund war, der die roten Zahlen schrieb, während Länder, Gemeinden und Sozialversicherungen Milliardenüberschüsse erzielten. Fasst man einerseits Bund und Sozialkassen und andererseits Länder und Kommunen zusammen, so steht einem Defizit von 113 Milliarden Euro auf der einen Seite ein Überschuss von gut elf Milliarden Euro gegenüber – armer Bund, reiche Länder.
Die großen Aufgaben des zurückliegenden Jahres finanzierte der Bund. Mit viel Geld musste die Energieversorgung der viertgrößten Volkswirtschaft der Welt sichergestellt, die Bundeswehr abwehrbereiter gemacht und zumindest Bedürftige vor den finanziellen Folgen der Energiepreisexplosion abgeschirmt werden. Überdies galt es, eine Million Ukraineflüchtlinge zu versorgen und die Folgen der – hoffentlich – letzten Coronawelle zu finanzieren.
Nun ließe sich argumentieren, die Bewältigung solcher Schocks sei Aufgabe des Zentralstaats, während die untergeordneten Ebenen lediglich ausführende Verwaltungseinheiten darstellten. In zentralistisch organisierten Staaten wie etwa Frankreich ist dies der Fall.
Doch der deutsche Staat ist föderalistisch aufgebaut. Jedes der 16 Bundesländer pocht auf seine Einzigartigkeit und Eigenständigkeit, und jede Staatskanzlei betont die eigene Wichtigkeit. Allerdings, für diese Eigenständigkeit zu bezahlen, ist in allen 16 Ländern ausgesprochen unpopulär.
Tausche Macht gegen Geld
Daher machten die Länder im Bundesrat von ihren im Grundgesetz vorgesehenen Einflussmöglichkeiten auf zentralen Politikfeldern regen Gebrauch. Dies betraf nicht zuletzt Fragen der Finanzverfassung und damit der Steuern. Jede Steuerrechtsänderung, die nicht reine Bundessteuern wie die Tabaksteuer betrifft, braucht eine Mehrheit in Bundestag und Bundesrat. Solche Zustimmungen ließ sich die Länderkammer durchweg teuer bezahlen.
So kam es, dass seit der letzten Föderalismusreform 2009 die Länder dem Bund Schritt für Schritt Anteile am Steueraufkommen abhandelten und im Gegenzug der Bund Einfluss auf immer mehr Länderzuständigkeiten bekam. Mittlerweile wird nicht nur der Ausbau von Kindertagesstätten vom Bund mitfinanziert, sondern auch deren Betrieb.
Die Folge: Seit dem Jahr 2020 steht den Ländern ein größerer Anteil am Steueraufkommen zu als dem Bund. Im zurückliegenden Jahr bekamen die Länder nahezu 43 Prozent der vereinnahmten Steuern, der Bund 38 Prozent, die Gemeinden 15 Prozent und die EU gut vier Prozent.
Im Jahr 2000 war der Bundesanteil noch etwa fünf Prozentpunkte höher, während die Anteile von Ländern und Gemeinden entsprechend geringer waren. Gleichzeitig führen die sich ausbreitende Mischfinanzierung und ein „Wust miteinander verschränkter Verhandlungsarenen“ dazu, dass „alle für alles zuständig sind und niemand für irgendetwas verantwortlich ist“, wie es CDU-Urgestein Wolfgang Schäuble einmal ausdrückte. Kompetenzwirrwarr und eine wachsende Bürokratie sind die Folgen.
Nun steht die deutsche Volkswirtschaft unbestreitbar vor großen Herausforderungen, die den Staat viel Geld kosten werden. Der schon bald einsetzende markante Alterungsschub der Bevölkerung wird für die Sozialversicherungen zur Belastungsprobe, für deren Bewältigung bislang kein überzeugendes Konzept erkennbar ist.
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Die Ausgaben insbesondere von Renten- und Pflegeversicherung werden demografiebedingt deutlich ansteigen, während angesichts sinkender Erwerbstätigkeit die Einnahmebasis von Sozialversicherungen und Fiskus schrumpfen wird.
Die Dekarbonisierung der Volkswirtschaft muss zwar in erster Linie über privat finanzierte Investitionen vorangetrieben werden. Gleichwohl ist es Aufgabe des Staates, die Energieinfrastruktur so anzupassen und zu modernisieren, dass sie den neuen Anforderungen gewachsen ist.
Standortnachteil Deutschland
Gleichermaßen kann die Digitalisierung der Verwaltung nur dann voranschreiten, wenn der Bund einheitliche Rahmenbedingungen für eine Infrastruktur bereitstellt und Standards entwickelt, die dann vor Ort von Ländern und Gemeinden umgesetzt werden müssen.
Darüber hinaus fällt Deutschland angesichts hoher Unternehmensteuern und schlechter werdender Infrastruktur in Standort-Rankings immer weiter zurück. Selbst Wirtschaftsminister Robert Habeck hält im Jahreswirtschaftsbericht seines Hauses eine neue „Angebotspolitik“ für notwendig, um den Standort zu stärken.
All dies sind Aufgaben, für die vorrangig der Bund zuständig ist. Tatsächlich fließt heute jedoch mehr als jeder dritte Euro aus dem Bundeshaushalt in den Bereich der sozialen Absicherung, insbesondere in die Kofinanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung.
Prof. Bert Rürup ist Präsident des Handelsblatt Research Institute (HRI) und Chefökonom des Handelsblatts. Er war viele Jahre Mitglied und Vorsitzender des Sachverständigenrats sowie Berater mehrerer Bundesregierungen und ausländischer Regierungen. Mehr zu seiner Arbeit und seinem Team unter research.handelsblatt.com.
Der Großteil der Ausgaben der Länder und Gemeinden sind hingegen Personalausgaben, die nicht selten durch Bundesgesetze bedingt sind. Für diese beiden Ebenen zusammen weist die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung für 2022 Arbeitnehmerentgelte in Höhe von 240 Milliarden Euro aus – beim Bund sind es nur gut 40 Milliarden.
Ohne Zweifel sind Polizei und Justiz, der Unterhalt von Kliniken, Schulen und Kitas sowie andere Aufgaben der Daseinsvorsorge personalintensiv. Doch ist es eben auch eine wachsende Bürokratie, die viele Ressourcen bindet. Einen Grund dafür sehen Vertreter der Neuen Politischen Ökonomie wie der US-Ökonom William A. Niskanen in ökonomischen Anreizen. Behördenleitungen sind nach diesem Ansatz bemüht, die eigenen Kompetenzen und Budgets auszuweiten mit der Folge, dass die Anzahl der Mitarbeitenden steigt.
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Ein mutmaßlich wichtigerer Grund für ein Anwachsen der Bürokratie sind nicht praxistaugliche Gesetze. Tatsächlich entstehen Gesetze immer noch wie in den Anfangsjahren der Bundesrepublik, ohne dass Lehren aus sieben Jahrzehnten Managementforschung und drei Dekaden Digitalisierung gezogen wurden.
Das zuständige Ministerium schreibt einen Entwurf, der im Kabinett reihum geht. Änderungswünsche werden oft innerhalb von Tagen oder binnen Stunden in Nachtsitzungen zusammengefügt, ohne die Folgen für die Umsetzbarkeit abzuschätzen.
Der ausgewiesene Verwaltungsexperte Volker Brühl forderte daher jüngst im „Handelsblatt“, dass alle Gesetze „digitalisierbar“ sein sollten. Alle Daten, die Behörden für ihre Dienstleistungen benötigten, sollten standardisiert in einer zentralen Datenbank erfasst werden – zweifelsohne ein Mammutprojekt.
Unstrittig ist, dass der Finanzbedarf des Bundes in den kommenden Jahren erheblich zunehmen wird. Wenn aus gutem Grund auf Steuererhöhungen verzichtet werden soll, bleibt wenig anderes übrig, als die vorhandenen Einnahmen anders zu verteilen – über Finanzausgleiche zwischen und innerhalb der staatlichen Ebenen.
Ein starker und effizienter föderaler Staat braucht aber nicht nur ausreichende Einnahmen, genügend Fachkräfte und brauchbare Technik, er braucht auch moderne Vorschriften und Gesetze sowie eindeutige und praxistaugliche Zuständigkeiten.
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