Düsseldorf Ein Bummel über die Berliner Prachtstraßen Kurfürstendamm und Tauentzienstraße ist für Thomas Johann Lorenz eine Zustandsbeschreibung des deutschen Handels. Er geht vorbei am insolventen Galeria, vorbei am insolventen P&C, passiert das bereits geschlossene Schuhhaus Leiser – und geht zum Shoppen ins KaDeWe, weil er da ein gut gemachtes Einkaufserlebnis findet. „Damit funktioniert auch der stationäre Handel noch“, sagt er.
Dieses Erlebnis will Start-up-Gründer Lorenz mit seinem Technologieanbieter Journee auch im E-Commerce etablieren. Journee entwickelt fotorealistische 3D-Welten, in denen die Kunden über ihr Smartphone oder ihren Computer individuelle Entdeckungstouren durch das Angebot von Markenherstellern unternehmen können. Kunden können sich in der virtuellen Einkaufswelt frei bewegen – wie heute in einem Kaufhaus – und dabei neue Produkte für sich entdecken. Ein Metaverse für den Konsum.
Solche Welten hat Journee schon für die Websites zahlreicher Unternehmen gebaut, von Siemens über BMW bis H&M. Jetzt aber geht das Start-up einen Schritt weiter. Für den amerikanischen Kosmetikhersteller Clinique eröffnet Journee nun ein eigenes kleines Metaverse, das mehr bietet als eine Präsentation des Angebots.
„Clinique ist unser erster Partner, der auch den Webshop in die virtuelle Umgebung integriert, wo also die Kunden direkt in der Erlebniswelt kaufen können“, erklärt Lorenz, der Journee vor drei Jahren zusammen mit dem Digitalkünstler Christian Mio Loclair in Berlin gegründet hat. „Es ist eine neue Art, unsere Marke zu präsentieren“, sagt Emmanuel Rousson, Vice President E-Commerce bei Clinique. Er spricht von einem Abenteuer und will jedem Kunden einen ganz persönlichen, interaktiven Zugang bieten.
Vorbild für diese neue Shoppingwelt sind 3D-Computerspiele, die gerade junge Menschen begeistern und in denen schon seit einiger Zeit hohe Umsätze mit virtuellen Gegenständen gemacht werden. Dieses Prinzip soll jetzt auf den Onlinehandel übertragen werden.
Metaverse bietet Umsatzpotenzial in Billionenhöhe
Das Potenzial scheint riesig zu sein. Nach einer Studie von Accenture, die im Januar auf der CES-Messe in Las Vegas veröffentlicht wurde, könnte das Metaverse bis Ende 2025 einen jährlichen Umsatz von einer Billion Dollar generieren. Das will auch der Einzelhandel nutzen. Einer Umfrage zufolge können sich 60 Prozent der deutschen Handelsunternehmen vorstellen, künftig eine virtuelle Verkaufswelt anzubieten.
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„Für alle Markenhersteller ist es wichtig, mit diesen Anwendungen zu experimentieren“, rät Valentia Contini, Metaverse-Expertin der Digitalberatung Diconium. Doch sie weiß auch, dass es für die meisten Firmen bis dahin noch weit ist. „Es gibt noch nicht viele Beispiele von Unternehmen, die solche virtuellen Welten den Kunden anbieten“, sagt Contini.
Und selbst in diesen Fällen müsse der Kunde bisher die Metaverse-Anwendung verlassen, um in den Webshop zu gelangen. Ein Kauf müsse künftig nahtlos möglich sein. Deshalb hält sie die direkte Integration wie bei Clinique für den „nächsten wichtigen Schritt“.
Der Journee-Gründer hat das Unternehmen zunächst nur mit Eigenmitteln aufgebaut, Investoren kamen erst später.
(Foto: Journee)
Was sich simpel anhört, ist technisch eine große Herausforderung. Für ein ansprechendes Einkaufserlebnis müssen riesige Datenmengen bewältigt und dreidimensionale, bewegte Bilder für die Kunden gebaut werden. „Das Erlebnis ist für jeden Konsumenten anders und muss live in dem Moment erzeugt werden“, beschreibt Journee-Gründer Lorenz die zentrale Herausforderung. „Wir haben eine zum Patent angemeldete Infrastruktur gebaut, die das überhaupt erst ermöglicht“, erklärt er.
Diesen Kraftakt hat Journee zunächst ohne externe Investoren bewältigt. Bei dieser, auch „Bootstrapping“ genannten, Finanzierungsform bauen Gründer ihr Unternehmen nur mit Eigenmitteln auf. In der Regel entwickelt sich damit ein Start-up langsamer, als wenn es externes Kapital verwenden kann.
Siemens, Adidas und BMW nutzen Plattform von Journee
Journee dagegen konnte schon im Gründungsjahr 2020 eine funktionierende Plattform aufbauen und Siemens als einen der ersten Großkunden gewinnen. Den Vorteil ihrer Lösung sieht Gründer Lorenz darin, dass sie über die Website des jeweiligen Markenpartners erreicht werden kann. Konsumenten müssten nicht auf spezielle Plattformen wie Roblox oder Decentraland zugreifen, was die Hürden für eine Nutzung senke.
Im folgenden Jahr kamen Markenhersteller wie Adidas, BMW und H&M dazu, die Band Coldplay veranstaltete ein Konzert über die Plattform. Das Unternehmen machte schon im zweiten Jahr einen Millionenumsatz und arbeitet seitdem profitabel.
Journee beschäftigt mittlerweile 85 Mitarbeiter an Standorten in Berlin, New York, Dubai, Kapstadt und Stockholm. Erst im vergangenen Jahr hat das Unternehmen erstmals Angel-Investoren hereingeholt und mittlerweile eine Series-A-Finanzierung in nicht genannter Höhe abgeschlossen. Der Umsatz liegt nach eigenen Angaben in zweistelliger Millionenhöhe und verdoppelte sich zuletzt jedes Jahr.
„Wir können nachweisen, dass wir eine Hebelwirkung für die Anbieter erzeugen“, sagt Gründer Lorenz. 13,5 Minuten bewegen sich die Kunden im Schnitt in den virtuellen Welten des Unternehmens. Das lässt sich auch am Geschäft der Kunden ablesen. „Dadurch sehen wir eine Steigerung der Kaufabschlüsse um 140 Prozent“, sagt er.
„Gerade in der Zeit, in der der Onlinehandel leicht stagniert, kann diese neue Technologie wieder neue Dynamik bringen“, hofft er. „Wir spüren deshalb gerade ein sehr großes Interesse der Konsumgüterhersteller an dieser Technologie, wir hatten noch nie so viele Anfragen“, berichtet er.
Experte warnt vor überzogenen kommerziellen Erwartungen
Denn Markenhersteller haben angesichts der komplexen Technik keine Chance, solche virtuellen Showrooms oder gar Webshops allein aufzubauen. „Es braucht besondere Fähigkeiten für die Erstellung der dreidimensionalen Welt“, erklärt Martin Cserba, Handelsexperte von Diconium.
Es gebe verschiedene Dienstleister, die Baukästen dafür anböten und ganze Communities von Creatoren, die das Design für solche Welten entwerfen können. Die Plattform von Journee sei dabei technisch führend und eine der meist genutzten in Deutschland.
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Cserba warnt aber vor kurzfristigen, überzogen kommerziellen Erwartungen an die neue Technik. Die Kosten für die Markenhersteller seien zunächst noch deutlich höher als ein herkömmlicher Webshop. „Das rechnet sich nicht sofort über Verkäufe“, sagt er.
Pioniere hätten aber die Chance, mit solchen Projekten aus der Masse der Anbieter herauszustechen. Und mit einer weiteren Verbreitung der Technologie im Handel würden die Kosten auch sinken.
Auch Journee-Gründer Lorenz ist überzeugt, dass es parallel weiter den klassischen Webshop für den schnellen Einkauf geben wird. Mehr und mehr Markenhersteller würden das jedoch durch Erlebniswelten ergänzen. „Gerade in dieser Kombination“, prognostiziert er, „sehen wir ein großes Potenzial.“
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