Kiel Wenn ein feindliches Schiff in Sicht ist, greift die Bundeswehr häufig noch zum Filzstift. Auf dem Versorgungsschiff Tender Mosel etwa müssen die Soldaten dann eine Seekarte hinter Plexiglas legen, die Position des Gegners markieren und sie von Zeit zu Zeit abwischen und ein paar Zentimeter weiter neu einzeichnen.
Fregattenkapitän Volker Voß, der beim Marineunterstützungskommando arbeitet, kann das schon seit zehn Jahren nicht mehr mit ansehen. Bei anderen Arten von Bundeswehrschiffen hat er Ähnliches beobachtet. „Die Führungswaffeneinsatzsysteme hatten alle ihre Probleme“, sagt Voß.
Weil er keine Besserung erwartete, hat er angefangen zu programmieren – eine Software, die nicht nur das Schiff Tender digitalisieren könnte, sondern auch andere Schiffe und Systeme. Das könnte helfen, die Bundeswehr unabhängiger von der Industrie und flexibler zu machen.
Doch nur weil einer in der Bundeswehr eine gute Idee hat, heißt das noch lange nicht, dass er sie umsetzen darf. Nils Hoffmann beschreibt das als „Dilemma großer Organisationen“. Er ist Geschäftsführer beim Unternehmen Public, das den öffentlichen Sektor bei Digitalisierungsvorhaben berät.
Bei der Bundeswehr habe jeder eine klare Rolle. Direkte Führungskräfte würden zwar oft noch erkennen, wenn ein Mitarbeiter mit eigenen Ideen einen größeren Beitrag leisten könne als mit seinen originären Aufgaben. Aber: Sie müssten das auch ihren eigenen Vorgesetzten klarmachen können. „Wenn man nicht besonders gute Kontakte in die Spitze einer Organisation hat, wird es sehr schwer.“
Betriebssystem für Kriegsschiffe? Voss hatte Glück, dass er loslegen durfte
Voss hatte Glück. Er traf auf Vorgesetzte, die ihn experimentieren ließen und zudem mit dem Cyber Innovation Hub (CHIB) der Bundeswehr zusammenbrachten. Das wurde vor sechs Jahren eingerichtet, um die Digitalisierung der Bundeswehr voranzutreiben und Soldatinnen und Soldaten dabei zu helfen, Innovationsprojekte selbst in die Hand zu nehmen.
„Wir suchen die Bill Gates der Bundeswehr“, sagt Leiter Sven Weizenegger. So wie der Gründer von Microsoft mit seinen Visionen die Computerwelt verändert habe, sei das auch bei der Bundeswehr möglich.
Das Projekt von Volker Voß und sein Experiment auf dem Tender haben sie „Tesla Tender“ genannt – in Anlehnung an die Autofirma von Elon Musk.
Der Fregattenkapitän arbeitet für das Marineunterstützungskommando – und hat über Jahre eine Art Betriebssystem für die Schiffe der Marine entwickelt.
(Foto: Bundeswehr / Tom Twardy)
Das CHIB darf Bundeswehrangehörige unternehmerisch coachen, mit ihnen experimentieren, Geld aus einem Zehn-Millionen-Budget zur Verfügung stellen und ihre Entwicklungen zur Beschaffung vorschlagen. Das könnte nun auch der nächste Schritt bei „Mese“ sein, dem System, das Voß sich ausgedacht hat.
Mese kann man sich in etwa wie Android vorstellen. So wie das Handy-Betriebssystem auf verschiedenen Endgeräten läuft, kann Mese etwa auf Tendern, Kriegsschiffen vom Typ Korvette oder Fregatte und Schnellbooten genutzt werden.
Zugleich könne sich die Besatzung je nach Bedürfnis unterschiedliche Funktionalitäten integrieren, vergleichbar mit Smartphone-Apps. Eine dieser Funktionalitäten ist die Lagebilddarstellung, in die etwa Daten aus Kameras und Radaren automatisch einlaufen können.
Kommandant will sehen, wo der Feind aufkreuzen könnte – und bekommt die Funktion in zwei Tagen
Zusammen mit der Besatzung des Tender Mosel und dem CIHB hat Voß das System Ende Januar auf hoher See getestet. Statt „in einer wehrtechnischen Dienststelle Code zu analysieren“, setze das Cyber Innovation Hub darauf, Entwicklungen schnell mit den Endnutzern auszuprobieren, sagt CHIB-Innovationsmanager Jan Philipp Krahn.
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Einer dieser Endnutzer ist Tender-Kommandant Stefan Ladewich. Er wollte während des Tests wissen, ob im Lagebild nicht auch darstellbar wäre, wie weit ein bereits gesichteter Feind innerhalb einer bestimmten Zeit fahren und wo er aufkreuzen könnte.
Das System Mese bringt die wichtigsten Sensordaten in einer Darstellung zusammen und hilft der Besatzung, die Lage im Blick zu halten.
(Foto: Bundeswehr / Tom Twardy)
Nach ein paar Tagen habe er die Simulationsfunktion bekommen, sagt Ladewich. „Ich sehe es als großen Vorteil, dass wir ein System in der Marine haben, an dem wir selbst Verbesserungen vornehmen können.“
Weniger industrieabhängig, schneller einsatzbereit sein
Bei Lösungen aus der Industrie lassen sich Änderungswünsche nicht so schnell umsetzen. Deshalb wirbt auch CHIB-Leiter Weizenegger dafür, dass die Bundeswehr mehr eigenen Quellcode bekommt: „Wenn sich das Lagebild verändert und wir in einer Woche eine neue Funktionalität brauchen, dann wären wir in der Lage, diese selbst zu entwickeln.“
Heute können Schiffe unterschiedlicher Hersteller oft nicht miteinander kommunizieren, weil sie geschlossene Systeme bauen. Bei einer offenen Infrastruktur wie im Fall von Mese könnten wiederum alle Unternehmen ihre Lösungen andocken.
So erstellt die Besatzung der Tender-Versorgungsschiffe bis heute ihre Lagekarten. Die Daten müssen sie unterschiedlichen Systemen entnehmen.
(Foto: Bundeswehr / Tom Twardy)
Entwickler Voß geht sogar noch weiter und plädiert für eine „waffenunabhängige Infrastruktur“. Mese könne prinzipiell auch bei Land- und Luftsystemen eingesetzt werden und dafür sorgen, dass alle Soldaten die gleiche Bedienoberfläche bekommen.
Wie es mit Mese weitergeht, muss jetzt wohl das Bundeswehr-Beschaffungsamt entscheiden. Vorübergehend dürfte die Marine ihr erstes System aber weiter nutzen – vielleicht sogar im Mittelmehr, wo die Bundeswehr im Nato-Unterstützungseinsatz nach Schleusern Ausschau halten soll.
Kommandant Ladewich sagt: „Ich persönlich hätte kein Problem damit, das ganze Lagedarstellungssystem so, wie es ist, zu nehmen und dem Kameraden zu geben, der nächste Woche in die Ägäis fährt.“
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