Hiroshima, Washington Die Zerstörung und das Leid des Krieges sind für Wolodimir Selenski auch in Japan allgegenwärtig. Der ukrainische Präsident besuchte am Sonntag in Hiroshima das Mahnmal für den weltweit ersten Atomwaffeneinsatz. Die Bilder, die er im Friedensmuseum gesehen habe, erinnerten ihn an das, was er in seinem Land sehe, sagte Selenski. „Ich habe nur Tränen in meinen Augen.“
Es ist eine emotionaler Moment einer Aufsehen erregenden Reise. Als Überraschungsgast besuchte Selenski den Gipfel der westlichen Industriestaaten (G7) in Japan. Damit landete er einen diplomatischen Coup, der stärker beachtet wurde als der Gipfel selbst. Schon Selenskis Fahrt vom Flughafen zum Hotel Grand Prince, Treffpunkt der G7-Staats- und -Regierungschefs, wurde im Fernsehen live vom Hubschrauber aus übertragen.
Die Reise hat sich für den ukrainischen Präsidenten ausgezahlt. Direkt nach Ankunft bedankte er sich bei den Verbündeten dafür, dass sie den Weg für die Lieferung von Kampfjets grundsätzlich frei gemacht haben: „Ich bin sehr glücklich.“
Großbritannien, Frankreich und andere europäische Staaten sind bereit, über die Ausbildung von Piloten eine Lieferung von Kampfjets zumindest vorzubereiten. Dafür brauchen sie aber die Erlaubnis der USA, die US-Präsident Joe Biden am Tag vor Selenskis Ankunft überraschend erteilte. Was Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) vor neue Herausforderungen stellt: Er hatte eine Lieferung von Kampfjets bislang abgelehnt.
Am Sonntag trafen sich dann Biden und Selenski zu einem Gespräch. Die USA würden alles in ihrer Macht Stehende tun, um die Ukraine im Abwehrkampf gegen Russland zu stärken, sagte Biden. „Zusammen mit der gesamten G7 stehen wir hinter der Ukraine, und ich verspreche, dass wir uns nicht abwenden werden“, sagte der US-Präsident zu Selenski. Der russische Präsident Wladimir Putin werde diese Entschlossenheit nicht brechen.
Der F-16 Fighting Falcon gilt der Flotte von Kampfflugzeugen aus der Sowjet-Ära, die in der Ukraine im Einsatz sind, als weit überlegen. Er ist zwar nicht das modernste US-Kampfflugzeug, verfügt aber über ein leistungsfähiges Radar, das Ziele aus Hunderten von Kilometern Entfernung erkennen kann.
Gruppenfoto mit den G7-Staats-und Regierungschefs sowie der EU-Spitze.
(Foto: AP)
Wer am Ende tatsächlich F-16-Jets bereitstellen wird und wie viele es davon in die Ukraine schaffen, ist offen. Auch ist unklar, wo die Pilotenausbildung stattfinden wird und wie viele Piloten trainiert werden. Ein US-Regierungsbeamter sprach von einem Prozess von „mehreren Monaten“, bis eine Koalition beteiligter Länder stehen könnte.
Scholz trifft Selenski: „Gut, dich zu sehen“
Selenski sagte, er glaube nicht, „dass wir all diese Verteidigungsmittel morgen haben werden. Aber trotzdem: Es ist ein großartiger Beschluss.“ Auch Scholz rechnet nicht mit einer baldigen Lieferung. „Das, was mit der Ausbildung von Piloten verbunden ist, ist ja ein längerfristiges Projekt.“
Scholz und der ukrainische Präsident hatten sich bereits am Samstag in Hiroshima zu einem Vieraugengespräch getroffen. „Gut, dich zu sehen. Wir treffen uns ja recht häufig“, sagte Scholz auf Englisch zu Selenski, als dieser den Raum im 22. Stock des Grand Prince Hotels betrat. Selenski war erst vor einer Woche in Berlin zu Gast gewesen. „Es ist immer eine Freude“, antwortete der ukrainische Präsident.
Während Selenski begeistert ist, ist für Scholz die Kampfjet-Wende ein ähnlich schwieriges Thema wie zuvor die Lieferung von Kampfpanzern. Zwar besitzt Deutschland selbst keine F-16-Jets. Anders als bei der Diskussion um Kampfpanzer wird es also keinen Druck auf Berlin geben, selbst zu liefern. Doch die Folgen einer Lieferung anderer Verbündeter an die Ukraine beträfen Deutschland dennoch unmittelbar.
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So sind die USA besorgt, dass die Ukraine die Jets einsetzen könnte, um Ziele im Zentrum Russlands zu attackieren. Die Folge, so die Furcht, wäre eine Eskalation des Konflikts und eine direkte Konfrontation zwischen den USA und Russland. Biden sagte, Selenski habe ihm die „uneingeschränkte Zusicherung“ gegeben, dass die Ukraine vom Westen gelieferten F-16-Jets nicht einsetzen werde, um auf russisches Gebiet vorzudringen
Kampfjets für Ukraine: Wurde Scholz von Biden überrumpelt?
Der Kanzler verfolgt bei Waffenlieferungen eine Strategie des Vortastens, bei der er langsam austariert, wie weit der Westen gehen kann, ohne Kremlchef Wladimir Putin zu einer Kurzschlussreaktion zu treiben.
Dem ukrainischen Präsidenten glückte ein diplomatischer Coup.
(Foto: AP)
Scholz’ oberstes Prinzip dabei lautet: Alle Waffenlieferungen müssen innerhalb der Nato abgestimmt werden, allen voran mit den USA. Wurde er nun ausgerechnet von Bidens Wende überrumpelt? Dazu will Scholz sich nicht äußern.
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Eine gewisse Skepsis schimmert jedoch durch. Die USA hätten noch gar nicht endgültig entschieden, „was am Ende der Ausbildung dann stehen wird“, sagt Scholz. Die Ausbildung von F-16-Piloten sei zunächst eine Botschaft an diejenigen, die die Ukraine angegriffen haben, betont der Kanzler: Russland solle nicht darauf setzen, dass die Unterstützung für die Ukraine mit zunehmender Dauer des Kriegs nachlässt.
Scholz bleibt damit seiner Linie treu. Unter keinen Umständen will er derjenige sein, der bei Waffenlieferungen vorprescht. Gemessen an dem, was Deutschland inzwischen der Ukraine an Waffen liefert, redet der Kanzler auffällig wenig darüber.
Neben der Aussicht auf die Lieferung von Kampfjets bot der Besuch beim G7-Gipfel Selenski auch die Gelegenheit, Regierungschefs wichtiger Länder zu treffen, die sich bisher entweder bei Resolutionen der Vereinten Nationen gegen Russlands Angriff auf die Ukraine enthalten oder sich den Sanktionen des Westens kaum oder gar nicht angeschlossen haben. So hatte Gastgeber Japan unter anderem auch die Präsidenten Indiens, Brasiliens und Vietnams eingeladen.
Brasiliens Präsident Lula will Selenski nicht treffen
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sagte, es handele sich um eine „einmalige Gelegenheit“, die Position der Ukraine zu erklären. „Ich glaube, dass es ein Wendepunkt sein kann.“ Tatsächlich berichten Teilnehmer einer Delegation, dass anders als noch vor wenigen Monaten inzwischen auch die meisten ehemaligen Wackelkandidaten Russland als Aggressor sehen würden.
Indiens Premier empfing den ukrainischen Präsidenten freundlich.
(Foto: via REUTERS)
Selenskis Entschluss, persönlich beim G7-Gipfel zu erscheinen, kam dennoch nicht bei allen gut an. Die Delegation des brasilianischen Präsidenten Luiz Inacio Lula da Silva bezeichnete den Überraschungsbesuch des Ukrainers als „Falle“. Lula wollte Selenski daher auch nicht persönlich treffen.
Lula hatte zuvor für die Gründung eines „Friedensklubs“ unter Einbeziehung Chinas geworben. Selenski lässt inzwischen erkennen, dass er gegen solche Initiativen nichts hat – wenn der ukrainische Friedensplan Grundlage dafür ist.
Indiens Premierminister Narendra Modi dagegen empfing Selenski freundlich. „Indien und ich persönlich werden alles in unserer Macht Stehende tun, um eine Lösung für Ihre Schwierigkeiten zu finden“, sagte Modi im öffentlichen Teil des Treffens.
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