Man kann zwar die Frage aufwerfen, inwiefern die von der EU-Kommission ins Spiel gebrachte Summe von 43 Milliarden Euro tatsächlich dazu beiträgt, die Lücke gegenüber der asiatischen und US-amerikanischen Konkurrenz zu schließen. Immerhin investieren die dortigen führenden Unternehmen im kapitalintensiven Chip-Sektor so viel in einem Jahr wie Europa bis zum Ende der Dekade zusammenbringen will. Dennoch ist der Chips Act eine erfreuliche Kehrtwende in der europäischen Industriepolitik, die bisher selten über Strategiepapiere hinausgekommen ist.
Die Kommission sollte ihren neuen industriepolitischen Mut beibehalten, denn auch in anderen Branchen gibt es vergleichbaren Handlungsbedarf. In vielen Sektoren, insbesondere dem Infrastrukturbereich, hinken europäische Unternehmen ihren internationalen Wettbewerbern hinterher.
Bei der Telekommunikation, im Schienenfernverkehr sowie bei der Strom- und Gasversorgung sind europäische Unternehmen kaum in der Weltspitze vertreten. Der Hauptgrund: Sie können die Chancen, die ein Binnenmarkt mit 450 Millionen Verbrauchen bietet, oft nicht nutzen – wegen nationaler Egoismen und eines antiquierten wettbewerbsrechtlicher Rahmens.
High-Jobs des Tages
Jetzt die besten Jobs finden und
per E-Mail benachrichtigt werden.
Das Ergebnis ist, dass die Unternehmen in diesen Bereichen oft nicht so profitabel sind wie ihre internationalen Wettbewerber. Das wiederum hemmt die Möglichkeiten, notwendige Investitionen in die Infrastruktur der Zukunft auf den Weg zu bringen. Die Investitionen US-amerikanischer Telekommunikationsunternehmen in die digitale Infrastruktur sind professional Kopf doppelt so hoch wie in der EU. Das Resultat: Die europäische Infrastruktur fällt im internationalen Vergleich stetig zurück.
Erforderlich ist eine Marktkonsolidierung
Digitalisierung, Schienenfernverkehr und Energieinfrastruktur sind jedoch genau jene Sektoren, in die wir investieren müssen, um unsere ambitionierten Klima- und Umweltziele zu erreichen. Wie kann man dem Drawback begegnen? Die erste wesentliche regulatorische Schranke, die aus dem Weg geräumt werden muss, ist das europäische Wettbewerbsrecht. Hier braucht es vor allem ein Neudenken des Konzepts des relevanten Marktes, das sinnvolle Zusammenschlüsse ermöglicht.
In einem integrierten Binnenmarkt muss es nicht in jedem Mitgliedstaat drei oder vier konkurrierende Telekommunikations- oder Energieanbieter geben. Echter Wettbewerb, der dem Kunden nützt, wäre in vielen Branchen auch mit einer Handvoll europaweit tätiger Unternehmen möglich. Eine solche Marktkonsolidierung muss das europäische Wettbewerbsrecht aber auch – anders als derzeit – ermöglichen.
Zum Teil ist sogar der Weltmarkt die relevante Bezugsgröße: Beim lange diskutierten Zusammenschluss der Zugsparten von Siemens und Alstom etwa hat die EU-Kommission das Entstehen eines europäischen Weltmarktführers erfolgreich verhindert. Ihre wettbewerbspolitische Bewertung zielte allein auf die Konkurrenz im Binnenmarkt ab und blendete die Scenario auf dem Weltmarkt, wo die chinesische Konkurrenz immer stärker wird, komplett aus. Das wirkt anachronistisch.
Nationale Egoismen überwinden
Das zweite große Hindernis besteht in nationalen Egoismen, die eine echte Integration wichtiger Märkte verhindern. Selbst dort, wo es bereits die technischen Voraussetzungen für eine tiefere Marktintegration gibt, geschieht viel zu wenig. Häufig bremsen die jeweils zuständigen nationalen Regulierungsbehörden – meist mit impliziter oder gar expliziter Billigung der Politik, die nationale Märkte zugunsten der heimischen Industrie abschottet.
Das ist auch der Grund, warum wir trotz mehrerer Fuel-, Energie- und Eisenbahnpakete, die alle das Ziel hatten, einen echten europäischen Markt zu schaffen, seit Jahren kaum nennenswerte Fortschritte erzielen. Es wird auch nicht helfen, wenn wir zwar in Deutschland dank der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs die Bundesnetzagentur politisch unabhängiger machen, die Schwesterbehörden in Frankreich und Italien aber weiter an der kurzen Leine der Politik hängen und Marktfragmentierung betreiben.
Will man bei der schrittweisen Marktintegration wirklich vorankommen, brauchten wir europäische Regulierungsbehörden mit echten Durchgriffsrechten bis hinein in einzelne Unternehmen. Das Europäische Parlament kämpft schon seit Langem für einen solchen europäischen Ansatz, die Mitgliedstaaten aber stehen seit jeher auf der Bremse. Es wird Zeit, dass auch die Europäische Kommission die Zeichen der Zeit erkennt und im Sinne einer aktiven Industriepolitik die Weichen für einen besser integrierten Binnenmarkt mit wettbewerbsfähigeren Unternehmen stellt.
Investitionsvolumina im dreistelligen Milliardenbereich
Trotz aller Defizite zeigt der Vorschlag für den Chips Act, was möglich ist, wenn es den entsprechenden politischen Willen gibt. Neben fehlendem politischem Willen gibt es nach wie vor aber auch keine übergeordnete industriepolitische Strategie, deren Elemente ineinandergreifen. Die Kommission kann nicht einerseits in ihren Strategiepapieren von Wettbewerbsfähigkeit und strategischer Autonomie philosophieren und andererseits der europäischen Wirtschaft jede Woche neue Knüppel zwischen die Beine werfen.
Eines ist klar: Sollen die hehren Ziele vom „Inexperienced Deal“ bis zur „digitalen Dekade“ Wirklichkeit werden, sind in den kommenden Jahren Investitionsvolumina im dreistelligen Milliardenbereich nötig. Angesichts der im Zeichen von Corona schlechten Haushaltssituation der meisten EU-Mitgliedstaaten ist klar, dass die hehren Ziele nicht in erster Linie mit öffentlichen Geldern erreicht werden können. Der Privatsektor muss vielmehr den Löwenanteil stemmen. Damit das gelingt, dürfen wir unsere Unternehmen nicht länger im Regen stehen lassen.
Betrachtet man die Kommissionsvorschläge der vergangenen Monate, drängt sich der Eindruck auf: Das klimapolitische Paket „Match for 55“, die verschärften Beihilferegeln für energieintensive Unternehmen und neue Berichtspflichten sind aus Sicht der Wirtschaft nichts anderes als ein Belastungsmarathon. Das gilt insbesondere mit Blick auf die Konkurrenzfähigkeit europäischer Unternehmen im internationalen Wettbewerb, denn dieses Drawback wird auch ein intestine gemeinter CO2-Grenzausgleichsmechanismus nicht lösen können – sofern er überhaupt mit den Regeln der Welthandelsorganisation in Einklang gebracht werden kann.
So wird die europäische Industrie sicher nicht in die Lage versetzt, die Herausforderungen der Zukunft zu meistern. In der europäischen Industriepolitik brauchen wir ein Umdenken und einen klaren Masterplan. Es muss – wie im Chips Act geschehen – sichergestellt werden, dass Regulierung und Wettbewerbsrecht ineinandergreifen.
Der Autor: Markus Ferber ist wirtschaftspolitischer Sprecher der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament.
Mehr: Wie die EU moderne Halbleiter-Fabriken nach Europa holen will.