Berlin, Düsseldorf Deutschlands rund 14.000 Aktiengesellschaften sollen künftig ihre Hauptversammlungen (HV) virtuell abhalten dürfen. Das sieht ein Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums (BMJ) vor, der dem Handelsblatt vorab vorliegt.
Demnach soll weiterhin die „klassische“ Präsenzversammlung möglich sein, aber auch die virtuelle Variante, bei der die Ausübung der Aktionärsrechte „im Wege elektronischer Kommunikation und teilweise im Vorfeld zu erfolgen hat“, wie es in dem Entwurf heißt. Das neue Format stelle keine „Versammlung zweiter Klasse“ dar.
Konkret sieht der Referentenentwurf vor, dass Aktiengesellschaften und verwandte Rechtsformen wie etwa die Europäische Gesellschaft (SE) die Möglichkeit erhalten, ihre Hauptversammlungen „ohne physische Präsenz sämtlicher Aktionäre“ abzuhalten.
Die Gesellschaftssatzung kann demnach das Format als virtuelle HV entweder selbst festlegen oder eine „Ermächtigung“ zugunsten des Vorstands vorsehen. Eine solche Ermächtigung des Vorstands muss allerdings jeweils befristet sein – auf maximal fünf Jahre.
Mindestvoraussetzung ist die „Ton- und Bildübertragung der Versammlung“ sowie ein Mindeststandard für die Ausübung von Aktionärsrechten „vor und in der Versammlung“. Zuerst hatte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ darüber berichtet.
Betroffene Unternehmen bräuchten künftig additionally keine Räume mehr für die HV anzumieten und keine aufwendige Organisation mehr zu stemmen. Der Entwurf geht davon aus, dass Präsenzversammlungen bei großen börsennotierten Gesellschaften bis zu 2,5 Millionen Euro kosten. Die Wirtschaft könne durch die Neuerung jährlich 35 Millionen Euro sparen.
Der Entwurf soll am Mittwoch in die Verbändeanhörung gehen, falls in der Ressortabstimmung kein anderes Ministerium widerspricht.
Bislang nur Corona-Sonderregelung
Wegen der Coronapandemie hatte die Bundesregierung 2020 mit einem Notgesetz bereits die Möglichkeit geschaffen, rein digitale Aktionärstreffen abzuhalten. Auf diese Weise konnten die Unternehmen trotz Kontaktbeschränkungen ihre HV rechtssicher durchführen. Die Regelungen waren zunächst bis Ende 2021 befristet, wurden aber angesichts der andauernden Pandemie bis 31. August 2022 verlängert.
Nun soll die virtuelle HV zum Normalfall werden. Seit dem Inkrafttreten der Corona-Sonderregelung seien die HVs börsennotierter Gesellschaften – „soweit bekannt“ – nahezu ausnahmslos als virtuelle Hauptversammlungen durchgeführt worden, heißt es in dem Entwurf. Es habe sich gezeigt, „dass sich diese Versammlungsform grundsätzlich bewährt hat“. Die Praxis habe das Instrument „überwiegend positiv“ aufgenommen.
Allerdings sei mit der Sonderregelung die Ausübung von Aktionärsrechten nicht im gleichen Maße wie bei einer Präsenz- oder hybriden Versammlung möglich, räumt das Ministerium ein. Erfolge etwa die Stimmrechtsausübung der Aktionäre allein über die elektronische Briefwahl, sei keine elektronische Teilnahme an der Versammlung möglich. In der Folge könnten Aktionäre das Antrags- und Rederecht in der Versammlung nicht wahrnehmen. Darum sei ein neues „Virtuelle-Hauptversammlungen-Gesetz“ nötig.
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Als Vorteile des virtuellen Codecs nennt der Entwurf eine Steigerung der Aktionärspräsenz und eine erleichterte Teilnahme für ausländische Aktionäre und Kleinaktionäre, „für die nicht unerhebliche Kosten für Anreise und Übernachtung anfallen können“. Die Möglichkeit, das Fragerecht in das Vorfeld der Versammlung zu verlegen, habe zu einer „Erhöhung der Qualität bei der Beantwortung von Aktionärsfragen“ beigetragen.
Kompensation für Aktionäre
Das Bundesjustizministerium geht davon aus, dass es in Deutschland etwa 5,3 Millionen Aktionäre gibt, die allerdings nicht alle an HVs teilnehmen. Bei virtuellen Versammlungen müssen das Stimm-, Antrags-, Auskunfts- und Rederecht sowie die Possibility zur Widerspruchseinlegung „im Wege elektronischer Kommunikation“ ermöglicht werden.
Dabei müsse es sich aber nur beim Rederecht um eine Videoschalte handeln. Das Stimmrecht könne zum Beispiel per E-Mail oder über eine Funktion im Aktionärsportal ausgeübt werden. Gleiches gilt für das Einlegen von Widersprüchen.
So könne der Vorstand beim Auskunftsrecht bestimmen, dass Fragen „bis spätestens vier Tage vor der Versammlung“ über elektronische Kommunikation eingereicht werden müssen. In der Versammlung selbst sei dann ein Nachfragerecht „zwingend vorgesehen“. Auch Stellungnahmen der Aktionäre könnten vorab eingereicht werden. Im Gegenzug müsse der Vorstandsbericht oder dessen „wesentlicher Inhalt“ den Aktionären spätestens sechs Tage vor der HV zugänglich gemacht werden.
Das alles führe zu Zeitersparnis und einer „Entzerrung“ bei der HV, schreibt das BMJ. Lange Redezeiten von Aktionären – die HVs großer Unternehmen dauern mitunter zehn Stunden – würden damit der Vergangenheit angehören.
Im Entwurf geht es auch um das schärfste Schwert, das Aktionäre in Sachen Hauptversammlung haben: nämlich die nachträgliche Anfechtung der dort gefassten Beschlüsse. Solche Anfechtungsklagen hatte die Bundesregierung im Corona-Notgesetz für die virtuellen HVs faktisch ausgeschlossen.
Viele Firmen empfanden das als Segen, weil ihnen die anschließenden rechtlichen Auseinandersetzungen mit sogenannten Berufsklägern erspart blieben. Der Entwurf sieht nun vor, dass technische Störungen kein Grund für die Anfechtung von Beschlüssen sein sollen.
Die Wirtschaft begrüßte den Vorstoß. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) äußerte sich grundsätzlich positiv. Nun folge die Detailprüfung. Das Deutsche Aktieninstitut lobte, dass die Bundesregierung jetzt aktiv werde. „Das Verfahren sollte zügig vorangehen, damit wir 2023 nicht wieder zurückfallen auf die Präsenzhauptversammlung“, sagte der stellvertretende Geschäftsführer Franz-Josef Levent. Er forderte aber: „Rechtsrisiken müssen geklärt und ausgeräumt werden, damit eine virtuelle Hauptversammlung nicht risikoträchtiger und teurer als eine Präsenzhauptversammlung wird.“
Aktionärsschützer: „Schlichtweg ausgebremst“
Aktionärsschützer zeigten sich von den Planungen der Bundesregierung noch nicht überzeugt. Man erkenne zwar an, dass das Justizministerium einen möglichst ausgewogenen Vorschlag vorstellen wolle, sagte Marc Tüngler, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW).
Wichtig sei, dass das Auskunfts- und das Anfechtungsrecht nahezu unberührt bleiben und einzelne Rechte, wie etwa das Fragerecht, nicht an bestimmte Beteiligungshöhen geknüpft werden. „Ob die vorgeschlagenen Werkzeuge aber wirklich dazu taugen, eine Interaktion zwischen den Aktionären und den Unternehmen möglich zu machen, ist eher mit einem Fragezeichen zu versehen“, sagte Tüngler.
Im Zentrum einer Neuregelung muss aus Sicht des Aktionärsschützers stehen, auch die virtuelle Hauptversammlung für einen offenen Austausch und Dialog zu öffnen und nicht nur hintereinandergeschaltete Monologe ohne Bezug zueinander zu ermöglichen. Wenn es keine Möglichkeit für Livestatements in die HV gebe, sei es „eher unwahrscheinlich, dass aufseiten der Verwaltung ernsthaft zugehört wird“.
„Die virtuelle Hauptversammlung hat sich in den letzten zwei Jahren definitiv nicht bewährt“, kritisiert Tüngler. „Die Aktionäre wurden schlichtweg ausgebremst.“ Nun müssten ihre Rechte uneingeschränkt wiederhergestellt werden.
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