Vor der iberischen Küste
Mysteriöse Orca-Angriffe – Forscher rätseln
Aktualisiert am 04.08.2024 – 08:50 UhrLesedauer: 4 Min.
Seit 2020 werden Boote vor den Küsten Südwesteuropas immer wieder von Orcas zerstört. Nun gibt es einen kleinen Hoffnungsschimmer.
Die idyllische Bootsfahrt im Mittelmeer geriet für eine spanische Familie binnen Sekunden zum Horrortrip. Mehrere Orcas bedrängten plötzlich das Segelschiff und rissen ein großes Stück des über zwei Meter langen Ruderblattes ab. „Ich weiß nicht, ob diese Wale wirklich nur spielen wollten oder was auch immer, aber wenn man von einem acht Meter langen und mehrere Tonnen schweren Biest angegriffen wird, das seine Zähne in Aluminium versenken kann, bekommst du es mit der Angst zu tun“, erzählte der Bootsbesitzer jüngst der spanischen Zeitung „El Mundo“. Der geplante Schiffsurlaub der Familie endete abrupt – aber die Attacken hören nicht auf.
Der letzte größere Zwischenfall ereignete sich erst am 24. Juli vor der Küste von Tarifa an der Straße von Gibraltar. Das Segelboot „Bonhomme William“ sendete sofort ein Notsignal, doch als die spanischen Einsatzkräfte eintrafen, war es schon halb untergegangen. Die drei Insassen – zwei Briten und ein Italiener – wurden rechtzeitig geborgen. „Die drei Geretteten sind wohlauf an Land gebracht, das Segelboot versinkt“, meldete der spanische Seerettungsdienst auf dem Kurznachrichtendienst X.
Solche Attacken – Forschende sprechen lieber von Interaktionen und gehen davon aus, dass die Schwertwale nicht in aggressiver Absicht handeln – waren bis vor wenigen Jahren unbekannt. Erste Zwischenfälle wurden im Pandemiejahr 2020 gemeldet und oft auf Video festgehalten. Da hört man die Schreie überraschter Seeleute: „Boah, was für ein Riesenvieh!“, „Du Drecksack!“ und „Er hat uns erwischt!“.
Die bis zu zehn Meter langen und über fünf Tonnen schweren Orcas sind die größte Art aus der Delfinfamilie und der breiten Öffentlichkeit spätestens seit der Filmreihe „Free Willy“ bekannt. Sie fressen Thunfische, Heringe, Robben, Pinguine und Seevögel und attackieren auch Haie, Delfine und andere Wale. Auf Boote hatten sie es aber bis 2020 nicht abgesehen.
Verschiedene Maßnahmen der spanischen Behörden, wie Fahrverbote für kleinere Boote in bestimmten Meereszonen und GPS-Tracker, um Orcas zu orten und Kapitäne zu warnen, brachten bisher wenig Erfolg. Laut der Organisation „GT Atlantic Orca“ (GTAO) gab es dieses Jahr bis Ende Juni vor den Küsten von Spanien und Portugal 84 Interaktionen. Sechs Boote seien so stark beschädigt worden, dass sie abgeschleppt werden mussten. Die Zahlen sind etwas höher als der Durchschnitt der Jahre 2021 bis 2023 im selben Zeitraum.
„Die meisten Begegnungen werden weiterhin an der Straße von Gibraltar oder in der Nähe registriert“, erzählt GTAO-Biologe Alfredo López der Deutschen Presse-Agentur. Das Gebiet zwischen Mittelmeer und Atlantik ist bei iberischen Orcas beliebt, weil dort eine ihrer Lieblingsspeisen, Thunfisch, reichlich vorkommt.
Spanische Medien berichten von zunehmender Angst – insbesondere bei Besitzern von Luxusbooten, die sich nicht mehr aufs offene Meer wagen und ihre teuren Fahrzeuge oft nur noch im Jachthafen genießen. Immer mehr Segler und auch Fischer der Region fordern von den Behörden „Lösungen“ und auch Entschädigungen wegen entgangener Einnahmen.
Die Vorfälle geben Forschern Rätsel auf. Denn obwohl Orcas weltweit leben, zeigen bisher nur Tiere in der iberischen Region das mysteriöse Verhalten. Von den 34 dort registrierten Individuen interagieren nach Erkenntnissen von GTOA nur 16 mit den Booten. Soweit bekannt tun sie das fast immer gemeinsam in der Gruppe. Es seien drei Weibchen und 13 Jungtiere, erzählt López.
Warum nur diese 16? Warum nur in der Straße von Gibraltar und zum Teil auch im westlichen Mittelmeer, vor der Küste Portugals und weiter nördlich im Atlantik vor der Nordküste Spaniens und der Westküste Frankreichs? Forschende räumen ein, dass sie noch keine sicheren Antworten auf diese Fragen haben.