Brüssel/Paris Die Präsentation seines Programms für die französische Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union begann Emmanuel Macron mit einer Mahnung: Der Kontinent stehe vor „existenziellen Fragen“, sagte der französische Staatschef. Die Herausforderungen seien groß, im Kampf gegen den Klimawandel, beim digitalen Wandel – und in der Geopolitik.
Als Antwort skizzierte Macron am Donnerstag im Élysée-Palast die „Agenda 2030“ für die EU. Ausdrücklich forderte der Präsident dabei auch eine Reform der europäischen Haushaltsregeln, um den Mitgliedstaaten mehr Spielraum bei Zukunftsinvestitionen zu geben.
Frankreich übernimmt am 1. Januar turnusgemäß den halbjährigen Ratsvorsitz. Macron zeigt sich – wie immer – äußerst ambitioniert. Dabei geht es in den kommenden Monaten nicht nur um die Zukunft Europas, sondern auch um sein eigenes politisches Schicksal: Im April stehen in Frankreich die Präsidentschaftswahlen an.
Macron muss gleichzeitig als Wahlkämpfer in der Heimat und als Anführer in Europa präsent sein. Kann das intestine gehen?
Macron zeichnete ein klares Bild, wie er sich „Europa im Jahr 2030“ vorstellt. Es gehe darum, ein „neues europäisches Wachstumsmodell“ zu definieren. Dazu werde er im März einen Sondergipfel veranstalten. Am Rande des Treffens werde es auch „strategische Überlegungen“ geben, wie die Haushaltsregeln in der Europäischen Union angepasst werden können.
Angesichts der notwendigen Investitionen in eine grünere und digitalere Wirtschaft „können wir nicht zu einem Haushaltsregelwerk zurückkehren, das vom Beginn der 1990er-Jahre stammt“, sagte Macron.
In Deutschland wird der Präsident noch viel Überzeugungsarbeit leisten müssen: Der neue Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), der am Freitag zum Antrittsbesuch nach Paris kommt, hat sich bislang skeptisch zu einem Umbau der Schuldenregeln geäußert.
Die französische Regierung hält die 60-Prozent-Grenze bei der Staatsverschuldung derweil für obsolet und liebäugelt auch mit der Idee, Zukunftsinvestitionen nicht auf die Drei-Prozent-Grenze beim Haushaltsdefizit anzurechnen.
Im Macron-Lager hofft man auf einen Kompromiss. Pascal Canfin, einer der wichtigsten Europaabgeordneten aus Frankreich und Mitglied in Macrons LREM-Partei, sagte: „Der Koalitionsvertrag in Deutschland hat uns einer Einigung mit Berlin näher gebracht.
Wenn diese gelingt, kann das eine gute Foundation für eine Reform sein, die alle Euro-Staaten mittragen.“
Macron stellt außerdem die Frage der Souveränität Europas ins Zentrum des französischen Ratsvorsitzes. Neben einer engeren Zusammenarbeit in der Verteidigungspolitik gehöre dazu auch, dass
Europa die Einwanderung steuere und seine Grenzen besser kontrolliere. Der Präsident kündigte an, in den nächsten Monaten eine Reform des Schengen-Raums anzustoßen. Ferner schwebt ihm eine neue Nachbarschaftspolitik der EU vor. Im Februar plant er einen gemeinsamen Gipfel mit der Afrikanischen Union in Brüssel.
Klimapaket wird Priorität haben
Die Hauptaufgabe des rotierenden Ratsvorsitzes ist allerdings, die laufenden politischen Projekte in der EU voranzutreiben. „Frankreich wird das Rad nicht neu erfinden. Die großen Dossiers sind bereits definiert“, sagt Alberto Alemanno, Professor für Europarecht an der Pariser Hochschule HEC.
Dazu gehört vor allem das große Klimaschutzpaket mit dem Ziel, dass die Mitgliedstaaten ihre Emissionen bis 2030 um mindestens 55 Prozent reduzieren. Bis 2050 soll die EU dann klimaneutral werden. Ebenfalls oben auf der Agenda der Franzosen steht der CO2-Grenzausgleich. Er soll dafür sorgen, dass der Klimaschutz in Europa nicht zu einem Abwandern von ganzen Industriezweigen führt.
Dafür sollen Importe von energieintensiven Gütern mit einer Abgabe belegt werden. Ein Vorschlag dazu liegt vor, nun kommt es darauf an, das Europaparlament und die Mitgliedstaaten von dem Vorhaben zu überzeugen.
Auch beim Digital Markets Act und beim Digital Companies Act muss Frankreich den europäischen Gesetzgebungsprozess moderieren und wenn möglich zu einem Abschluss bringen. Die beiden Gesetze sehen Regeln für Digitalkonzerne wie Amazon und Facebook vor, um deren Macht über die Gesellschaft und über kleinere Unternehmen einzuschränken.
Ganz nach dem Geschmack der Franzosen ist zudem der jüngste Vorschlag der Kommission für handelspolitische Strafmaßnahmen, mit denen sich die EU gegen Drittländer zur Wehr setzen können soll.
Viel Zeit für die Vorbereitung seines überaus ambitionierten Programms hat Macron nicht. „Die französischen Aktivitäten werden sich wegen der Präsidentschaftswahl sehr stark auf den Jahresbeginn konzentrieren“, sagte Georgina Wright, Leiterin der EU-Abteilung beim Pariser Thinktank Institut Montaigne.
Auch der frühere französische Staatschef Jacques Chirac musste 1995 den Wahlkampf und die EU-Ratspräsidentschaft miteinander vereinbaren. Seitdem ist allerdings nicht nur der Kreis der Mitgliedstaaten gewachsen, sondern auch das Ausmaß der europäischen Krisen.
Vor allem die Erosion des Rechtsstaats in Polen und Ungarn bereitet Macron Sorgen. Er stellte am Donnerstag klar: Die europäischen Grundwerte seien „nicht verhandelbar“; sie seien „das Fundament unserer Verträge“. Daher werde er während des Ratsvorsitzes über „neue Instrumente“ für den Umgang mit politischen Kräften nachdenken, die diese Werte untergraben.
Der Konflikt zwischen Befürwortern und Gegnern einer stärkeren europäischen Integration dürfte Macron auch im heimischen Wahlkampf sehr beschäftigen.
Meinungsumfragen in Frankreich deuten darauf hin, dass es im Frühjahr erneut zu einer Stichwahl zwischen Macron und der Rechtspopulistin Marine Le Pen kommen dürfte.
Le Pen wiederum sucht die Allianz mit Macrons Gegenspielern auf europäischer Ebene. Kürzlich beriet sie in Warschau mit Rechtspopulisten aus anderen Ländern über eine engere Kooperation, darunter Polens Premierminister Mateusz Morawiecki und der ungarische Premierminister Viktor Orban.
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