Bei den Kommunalwahlen in Thüringen sind am Wochenende viele Stimmzettel leer geblieben. Dahinter steckt eine rechtsextreme Strategie, warnt ein Experte.
Die etwas weniger als 200 Einwohner im thüringischen Fretterode hatten am Wochenende zwar die Wahl – aber auch einen leeren Wahlzettel. Seit zwölf Jahren ist Mike Gunkel das Oberhaupt der Gemeinde. Bei der Kommunalwahl in diesem Jahr trat er jedoch nicht wieder an. Es fand sich aber auch kein anderer Kandidat für das Amt des Bürgermeisters.
Gunkel hatte seine Entscheidung also getroffen. Seine Gemeinde allerdings auch: 73 Wählerinnen und Wähler schrieben den Bürgermeister als ihren Kandidaten auf den leeren Stimmzettel. Der parteilose Gunkel holte so, ob er wollte oder nicht, 71,6 Prozent der Stimmen. 28,4 Prozent entfielen auf andere Namen. Fretterode hat also gewählt – einen Mann, der eigentlich nicht mehr wollte.
Ähnlich wie in Fretterode war die Situation am Wochenende in 90 weiteren Orten in Thüringen. „In 91 Ortsteilen/Ortschaften werden zur Ortsteil-/Ortschaftsbürgermeisterwahl ‚leere Stimmzettel‘ ausgehändigt“, schrieb das Thüringer Landesamt für Statistik in einer Mitteilung vor der Wahl. Thüringens Ministerpräsident Ramelow sprach beim „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ (RND) von „Alarmzeichen, wo die Demokratie zuerst schwächeln wird“.
Versuch, die Demokratie lahmzulegen
Ähnlich sieht es der Soziologe Johannes Kiess vom Else-Frenkel-Brunswik-Institut der Uni Leipzig. „In einem kleinen Ort wie Fretterode gibt es das grundsätzliche Problem, dass die Auswahl an Menschen, die sich engagieren, sowieso begrenzt ist“, sagt Kiess t-online. Für eine Demokratie sei es ein großes Problem, wenn sie ihre Ämter nicht mehr besetzen könne. „Das Gemeinwesen lebt davon. Wenn es keine demokratisch gewählten Mandatsträger mehr gibt, verfallen Dinge sozial, aber auch einfach vor Ort. Wenn niemand entscheidet, dass eine Straße saniert wird, dann geht sie kaputt.“
Doch es gebe in Thüringen und Sachsen ein weiteres Problem, so Kiess: „Dort, wo extrem rechte Kader sind, verfolgen sie oft die Strategie, bewusst für Ärger zu sorgen und so unliebsame Amtsträger unter Druck zu setzen.“ Es handle sich dabei um einen bewussten Versuch, die Demokratie lahmzulegen. „Sie versuchen, die Krise, die sie ideologisch brauchen, selbst herbeizuführen.“
Sind Rechtsextremisten Teil von Stadt- oder Gemeinderäten, könnten sie die dort verfügbaren Informationen nutzen, um beispielsweise gegen Pläne für neue Geflüchtetenunterkünfte oder kontroverse Umgehungsstraßen zu agitieren. „Ziel ist es, demokratisch Engagierten Knüppel vor die Füße zu werfen. Man will sie frustrieren.“
Ex-NPD-Landeschef ist in Fretterode aktiv
Fretterode steht immer wieder wegen rechtsextremer Vorfälle in den Schlagzeilen. Im Jahr 2018 verfolgten zwei Neonazis ein Journalistenteam. Später schlugen sie einem der Journalisten mit einem Schraubenschlüssel den Schädel ein, dem anderen stachen sie ein Messer ins Bein.
In Fretterode lebt Thorsten Heise, der ehemalige Thüringer Vorsitzende der inzwischen in „Heimat“ umbenannten NPD. Auf seinem Privatgrundstück hat Heise nach Informationen des Verfassungsschutzes ein Denkmal für die Waffen-SS wiederaufgebaut. Heise saß bis zum Wochenende für „Heimat“ im Stadtrat. Bei der Wahl am Sonntag verlor er allerdings laut vorläufiger Ergebnisse sein Mandat. Heise soll mit Björn Höcke, dem Vorsitzenden der AfD in Thüringen, gut bekannt sein. Höcke lebt im sechs Kilometer entfernten Bornhagen.
Wie es in Fretterode nach der Wahl des unfreiwillig gewählten Bürgermeisters Mike Gunkel weitergeht, ist unklar. Ein Sprecher der Verwaltungsgemeinschaft Hanstein-Rusteberg erklärte t-online am Montagmittag, Gunkel habe nach der Wahl mündlich erklärt, dass er diese doch annehmen wolle. Dies müsse er innerhalb einer Woche schriftlich bestätigen. Sollte er jedoch verzichten, wird innerhalb der kommenden drei Monate erneut gewählt. Der Vorgang wiederhole sich, bis ein williger Kandidat gewählt wird. Gunkel selbst war für t-online am Montag nicht erreichbar.