Berlin Wenn es um die Zukunft geht, setzt Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) auf ein Modell, aus dem er seit Wochen Hinweise für den Umgang mit der Coronapandemie zieht. Wissenschaftler des Robert Koch-Instituts (RKI) können es mit unzähligen Parametern füttern und daraus ableiten, wie sich die fünfte Welle entwickelt.
Setzt sich der Verlauf so fort, lässt sich daraus auch die Antwort auf die Frage ableiten, die sich derzeit viele stellen, nämlich: wann die Corona-Maßnahmen gelockert werden können.
„Wir haben relativ strenge Regeln“, sagte er. Diskotheken sind geschlossen, zudem gibt es mit den 2G- und 3G-Regeln Zugangsbeschränkungen – nicht nur in Geschäften, sondern auch am Arbeitsplatz.
Angesichts dessen drängen der Handel, die Gastronomie, Gewerkschaften und Schulen darauf, dass Bund und Länder einen Öffnungsplan erstellen. Sie fordern schnelle und einheitliche Entscheidungen – auch weil erste Bundesländer bereits lockern und somit ein Flickenteppich droht.
Erste Bundesländer lockern bereits
Seit Freitag gilt in Baden-Württemberg etwa in Eating places, in Museen und beim Sport in Hallen nur noch die 2G-Regel. Bisher mussten auch Geimpfte und Genesene hier einen Check vorweisen.
Wirtschaftsverbände verweisen beispielsweise auf die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie. Die Corona-Schutzmaßnahmen und die Ausfälle von Mitarbeitern durch Erkrankung oder Quarantäne hätten bereits zu Wertschöpfungsverlusten in Höhe von 350 Milliarden Euro geführt, sagte der Präsident des Verbands Die Familienunternehmer, Reinhold von Eben-Worlée, dem Handelsblatt.
Gleichzeitig hätten die Menschen immer weniger Verständnis dafür, dass überall unterschiedliche Schutzvorschriften gelten: „Im Supermarkt dürfen sich alle vor der Kasse drängeln, während im Einzelhandel kostenintensiv Impfnachweise überprüft werden müssen“, so der Hamburger Unternehmer.
Hilfreich wäre aus seiner Sicht, nur noch eine generelle Pflicht zum Tragen von FFP-2-Masken in der Öffentlichkeit vorzuschreiben und einen Impfnachweis oder einen aktuellen Check für Nicht-Geimpfte nur überall dort einzufordern, wo Menschen längere Zeit in geschlossenen Räumen ohne Maske verbringen, additionally beispielsweise in Eating places oder bei Kulturveranstaltungen.
Lauterbach rechnet mit bis zu 400.000 Neuinfektionen täglich
Im Augenblick gilt aber in den meisten Bundesländern für den Einzelhandel noch die 2G-Pflicht, auch wenn erste Gerichte den Zugang nur für Geimpfte und Genesene gekippt haben.
Forderung nach einheitlichen Regeln
Die Unternehmen wünschten sich mehr Verlässlichkeit und Abstimmung zwischen den Ländern bei den Coronamaßnahmen, fordert auch der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), Peter Adrian, gegenüber dem Handelsblatt.
Nicht nur im Einzelhandel wären einheitliche Regeln sinnvoll: „Denn die Veranstaltungsbranche etwa kann keine Tournee oder Ähnliches planen, wenn in jedem Bundesland andere Vorschriften gelten.“ Kanzler Olaf Scholz (SPD) und die Regierungschefs der Länder hatten bei ihrer Konferenz am 24. Januar vereinbart, bis zum 9. Februar eine einheitliche Regelung für überregionale Großveranstaltungen zu erarbeiten.
Auch dürften geltende Zugangsregeln nicht einfach von einem Tag auf den anderen geändert werden: „Wenn die Voraussetzungen für die Anerkennung als genesen oder voll geimpft über Nacht geändert werden, kommen selbst die programmierten Test-Apps nicht mehr hinterher“, kritisiert Adrian. In der Wirtschaft sorge das für Mehrbelastungen am Arbeitsplatz und längere Schlangen an den Eingängen.
Verlässlichkeit müsse es auch bei Landesregelungen geben, betont der Vorsitzende des Arbeitgeberverbands Südwestmetall Wilfried Porth. In Baden-Württemberg habe zwar der Verwaltungsgerichtshof völlig zu Recht die strengen Einschränkungen der Alarmstufe 2 gekippt, weil die Voraussetzungen dafür nicht mehr gegeben waren. Die Landesregierung habe zwar auf die Richterschelte reagiert und angekündigt, zur gültigen Alarmstufe zurückzukehren, dort aber gleichzeitig einige Regelungen so verschärft, dass sich für die betroffenen Bereiche doch nichts ändert, kritisiert Porth.
Das gelte zum Beispiel für Klubs und Diskotheken, aber auch Messen blieben weiterhin geschlossen. „Gesetze und Verordnungen sollten ein gegenseitiger Vertrag sein, der für die Bürgerinnen und Bürger und für die Politik gleichermaßen bindend ist“ sagte der Südwestmetall-Chef. Diesen einseitig abzuändern sei sehr kritikwürdig.
Auch die besonders betroffene Lodge- und Gaststättenbranche mache Druck auf die Politik. In der ersten Januarhälfte sei der Umsatz um 55 Prozent im Vergleich zur Zeit vor der Krise eingebrochen, sagte Dehoga-Hauptgeschäftsführerin Ingrid Hartges dem Handelsblatt.
„Schon jetzt könnte die Politik flächendeckend die Kontaktregistrierung in unseren Betrieben abschaffen, was in Bayern und Nordrhein-Westfalen längst erfolgt ist“, sagte sie. „Denn auch die Gesundheitsämter verfolgen die Kontakte nicht mehr.“ Wenn der Höhepunkt der fünften Welle erreicht sei, brauche es schließlich konkrete Lockerungsmaßnahmen hinsichtlich der Zugangsbeschränkungen und der Sperrzeitenregelungen.
Gewerkschaften sehen Öffnungsschritte zurückhaltend
Zurückhaltend mit Blick auf rasche Öffnungsschritte äußert sich dagegen der Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Reiner Hoffmann, denn der Schutz der Beschäftigten habe oberste Priorität: „Aufgrund der deutlich höheren Infektiosität der Omikron-Variante halte ich Lockerungen für verfrüht.“
Die Arbeitgeber seien weiterhin gefordert, Testangebote beizubehalten und alle Möglichkeiten des Arbeits- und Gesundheitsschutzes auszuschöpfen. „Ein wirksamer Schutz am Arbeitsplatz ist wichtiger denn je, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden und die kritische Infrastruktur aufrechtzuerhalten.“
Am Arbeitsplatz gilt weiter die 3G-Regel und die Pflicht, aus dem Homeoffice zu arbeiten, wenn keine betriebsbedingten Gründe dem entgegenstehen. Wer das Betriebsgelände betreten will, muss einen Nachweis als Geimpfter oder Genesener oder einen negativen Coronatest vorlegen. Die Regelung im Infektionsschutzgesetz ist zunächst bis zum 19. März befristet.
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Besonders heikel ist die Lage in den Schulen. Nach der Wochenstatistik der Kultusministerkonferenz waren in der vergangenen Woche deutschlandweit von insgesamt elf Millionen Schülern mehr als 360.000 infiziert oder in Quarantäne – gegenüber 184.000 in der Vorwoche. Zudem sind mehr als 9500 Lehrer infiziert.
Berlin hat daher bereits die Präsenzpflicht aufgehoben. Es steigt auch die Zahl der Schulen, die zumindest teilweise zum Distanzunterricht zurückkehren, einen Überblick gibt es hierzu allerdings nicht.
Schulen: Hoffnungen auf Lockerungen zu Ostern
Angesichts der Lage „gibt es keinen Anlass für Lockerungen“, stellt die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Schleswig-Holsteins Kultusministerin Karin Prien (CDU), gegenüber dem Handelsblatt klar. Stattdessen gehe es darum, „mit verstärkten Hygienemaßnahmen, Masken, Lüften und zusätzlichen Testungen darum, den Präsenzunterricht zu gewährleisten“.
Mittelfristig sieht das anders aus: Nach dem Abklingen der Omikron-Welle im Frühjahr wären wohl „leichtere Lockerungen bei Maskenpflicht und Testkonzepten möglich“, sagt Lehrerpräsident Heinz-Peter Meidinger dem Handelsblatt. „Der endgültige „Freedom Day“ jedoch wird noch auf sich warten lassen und vielleicht erst zum kommenden Schuljahr realisierbar sein“ – und auch das nur, falls nicht weitere, vielleicht gefährlichere Virusvarianten auftauchten.
Auch der Sprecher der CDU-Kultusminister, Hessens Schulminister Alexander Lorz, hofft: Sollten „im Umfeld der Osterferien Mitte April Lockerungen möglich sein, sollte man zuerst die Maskenpflicht aufheben“. Denn sie belaste die Kinder und Jugendlichen weitaus stärker als Exams.
Experten halten insbesondere den Schulbereich geeignet für Lockerungen. „In Schulen könnten die Lockerungen zuerst eingeführt werden, aber auch die anderen Bereiche könnten dann sicher bald folgen“, sagt Timo Ulrichs, Epidemiologe am Lehrstuhl für Globale Gesundheit der Akkon-Hochschule Berlin, dem Handelsblatt. Die 2G-plus-Regel sollte hingegen zuletzt gelockert werden, da diese die Übertragungen auf Ungeimpfte weniger wahrscheinlich macht.
Markus Scholz, Epidemiologe an der Universität Leipzig, hält die Reihenfolge der Lockerungen hingegen für eine „politische, keine epidemiologische Entscheidung“. Kritisch seien vor allem Großveranstaltungen und große Menschenmengen in Innenräumen. „Hier sollten die Einschränkungen zuletzt wegfallen“; sagte er dem Handelsblatt. „Zum Beispiel sollten Abstände und Maskenpflicht in Innenräumen noch länger bestehen bleiben.“ Wenn sich der Pattern allerdings fortsetze, dass das Virus immer milder werde, könnten „alle Maßnahmen entfallen“.
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