Paris Wenn Anne Hidalgo erklären muss, warum sie trotz katastrophaler Umfragewerte weiter an ihren Sieg bei der Präsidentschaftswahl in Frankreich glaubt, nennt sie einen Namen: Olaf Scholz. Hidalgo ist die Kandidatin der Sozialisten, der französischen Schwesterpartei der SPD.
Die Sozialdemokraten seien in Deutschland ebenfalls schon abgeschrieben worden, sagt sie. Nun regiere Scholz als Kanzler. „Das, was ihm in Deutschland gelungen ist, nehme ich mir sehr zum Vorbild.“
Nur: Ein Scholz-Effekt ist im Nachbarland nicht annähernd in Sicht. Die Umfragewerte von Hidalgo sackten zuletzt sogar unter fünf Prozent. Ihre Aufrufe an das zersplitterte linke Lager, sich hinter einem Einheitskandidaten zu versammeln, verhallen. Weniger als vier Monate vor der Wahl wird immer deutlicher: Der Kampf um den Élysée-Palast wird rechts der Mitte entschieden.
Darauf scheint sich auch Präsident Emmanuel Macron einzustellen, der seine Kandidatur für eine weitere Amtszeit erst im Januar oder Februar offiziell machen dürfte. Vor fünf Jahren trat Macron als Kandidat eines neuen Mitte-Bündnisses mit einer linksliberalen Agenda an. An seinen wirtschaftlichen Reformversprechen hat sich nichts geändert. Im Oktober kündigte er Milliardeninvestitionen an, um das Land in eine grüne und digitale Zukunft zu führen. Der Präsident kümmert sich nun aber auch auffällig um Themen wie Migration und Sicherheit, die für konservative Wähler wichtig sind.
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Meinungsforscher rechnen gegenwärtig mit zwei möglichen Duellen in der Stichwahl: Entweder muss Macron wie 2017 gegen die Rechtspopulistin Marine Le Pen antreten. Oder es geht gegen Valérie Pécresse, die Kandidatin des bürgerlich-konservativen Lagers. Im Hintergrund lauert ein Mann, der den Wahlkampf in den vergangenen Monaten aufwühlte: Éric Zemmour.
Prophet des Untergangs
An einem verregneten Sonntagnachmittag schwört Zemmour seine Gefolgschaft auf einen Kampf ein, bei dem es in seinen Augen um weit mehr geht als nur eine fünfjährige Amtszeit im Élysée-Palast. „Wenn ich diese Wahl gewinne, ist das nicht nur ein weiterer Machtwechsel“, ruft er. „Dann beginnt die Rückeroberung des schönsten Landes der Welt.“
Zemmours Feldzug richtet sich gegen die Kräfte der Globalisierung, die Europäische Union und die Einwanderung aus islamisch geprägten Ländern. Sein Zorn gilt französischen Eliten, die er für den Verlust der kulturellen Identität und der politischen Souveränität des Landes verantwortlich macht.
Binnen weniger Monate hat Zemmour eine neue politische Bewegung um sich geschart, die nicht nur im Web und in Umfragen Zustimmung erfährt: Zu seinem Wahlkampfauftakt Anfang Dezember sind quick 15.000 Menschen auf ein Messegelände im Norden von Paris gekommen. Als Zemmour in die Halle einzieht, steigen seine Anhänger auf die Stühle und schwenken französische Fahnen. Eine Frau hält ein Drucklufthorn in die Höhe und trötet begeistert im Stakkato.
Für einen Second wirkt es, als wäre Frankreich Weltmeister geworden. Dann ergreift Zemmour das Wort und es geht um den französischen Niedergang. Als eine kleine Gruppe von Demonstranten die Rede stört, wird sie aus dem Saal geprügelt. Im Wahlkampf droht nicht nur die Sprache zu verrohen.
Die schrillen Warnungen vor „Überfremdung“ waren für Zemmour ein lukratives Geschäftsmodell. Seine Bücher mit Titeln wie „Der französische Selbstmord“ oder „Frankreich hat sein letztes Wort noch nicht gesprochen“ landeten auf den Bestsellerlisten.
Seine Fernsehsendung auf dem rechtskonservativen Nachrichtenkanal CNews erreichte hohe Quoten. Auf dieser Foundation baut der wegen islamfeindlicher Parolen rechtskräftig verurteilte Publizist eine neue Partei auf. Der Title: „Rückeroberung“.
Konkurrenz für Le Pen
Der Rummel um Zemmour führte im Herbst vorübergehend dazu, dass er als möglicher Kandidat für die Stichwahl gehandelt wurde. In Umfragen lag er praktisch gleichauf mit Le Pen. Die Anführerin des Rassemblement Nationwide reagiert genervt auf den Störenfried von rechts außen. „Ich bin erstaunt über seinen Starrsinn“, sagte sie kürzlich. „Dass er glaubt, gewinnen zu können – und damit die patriotische Wählerschaft spaltet.“
Le Pen hatte nach der Wahlniederlage vor fünf Jahren versucht, das rechtsextreme Picture abzulegen. Der frühere Parteiname Entrance Nationwide wurde aufgegeben, radikale Forderungen wie etwa der Austritt aus der Euro-Zone wurden aus dem Programm gestrichen.
Der Aufstieg von Zemmour stellt ihren Kurs infrage. Anfang Oktober kritisierte Parteigründer Jean-Marie Le Pen seine Tochter in einem Interview mit der Zeitung „Le Monde“: Zemmour „besetzt das Terrain, das sie aufgegeben hat“.
Zemmours Umfragewerte sind inzwischen gesunken, liegen aber weiter im zweistelligen Bereich. Noch ist unsicher, ob er die erforderlichen 500 Unterschriften von Bürgermeistern, Abgeordneten und anderen Amtsträgern zusammenbekommt, um zur Wahl überhaupt zugelassen zu werden.
Eines ist dem Provokateur aber bereits gelungen: Mit seinen Klagen über vermeintlich verlorene nationale Größe und Identität hat er ein zentrales Wahlkampfthema geprägt – und die Rhetorik des rechten Kulturkampfes bis in das bürgerlich-konservative Lager hinein salonfähig gemacht.
Konservative auf Rechtskurs
Am Tag nach Zemmours hitzigem Wahlkampfauftakt unternimmt Valérie Pécresse ihre erste Reise als Präsidentschaftskandidatin der Republikaner. Die konservative Partei steht in der Custom der früheren Präsidenten Charles de Gaulle, Jacques Chirac und Nicolas Sarkozy. Im EU-Parlament arbeitet sie mit CDU und CSU zusammen.
Das Reiseziel von Pécresse deutet aber auf eine neue politische Realität in ihrer Partei hin: Sie besucht in Nizza den Abgeordneten Éric Ciotti, dessen Positionen im Vorentscheid über die Kandidatur der Republikaner kaum von den Rechtspopulisten zu unterscheiden waren. Ciotti hatte es bei der Mitgliederbefragung überraschend in die Stichwahl geschafft und dort quick 40 Prozent geholt.
Pécresse sagt, die Reise sei „eine Geste, weil Éric einen hervorragenden Wahlkampf gemacht hat“. Ciotti erklärt, dass die Kandidatin versprochen habe, ihr Programm mit einigen seiner Forderungen „zu würzen“. Der Politiker hatte eine besonders unerbittliche Linie in der Migrationspolitik vertreten. Er verlangte „Maßnahmen, um die Masseneinwanderung zu beenden“. Besonders im Visier von Ciotti ist der Zuzug von Menschen mit einer „arabisch-islamischen Kultur“.
Pécresse gilt eigentlich als wirtschaftsliberale und reasonable Konservative. Die Präsidentin der Hauptstadtregion Île-de France struggle vor einigen Jahren sogar aus der Partei ausgetreten, weil ihr die Republikaner zu stark nach rechts abdrifteten. Erst im Oktober kehrte Pécresse offiziell zurück – und sucht nun den Schulterschluss mit dem Ciotti-Flügel: „Ich will alle Befindlichkeiten der Rechten zusammenbringen.“
Macron unter Druck
Seit ihrer Nominierung hat Pécresse in den Umfragen einen Sprung gemacht. In einer möglichen Stichwahl könnte sie zu einer echten Gefahr für Macron werden. Der Präsident gab dem Fernsehsender TF1 in der vergangenen Woche ein zweistündiges Interview. Der Titel: „Wohin steuert Frankreich?“
Macron wies darin die Forderungen nach einem Einwanderungsstopp als „absurd“ zurück und verurteilte den Hass gegenüber Muslimen. Zugleich betonte er sein hartes Vorgehen gegen Islamisten. In seiner Amtszeit seien eine Reihe radikaler Moscheen und Kulturvereine geschlossen worden.
Ein zentrales Projekt von Macron für die im Januar beginnende französische EU-Präsidentschaft ist die Reform der Migrationsregeln im Schengenraum und ein stärkerer Schutz der europäischen Grenzen.
Im heimischen Wahlkampf soll Édouard Philippe die konservative Flanke in der Koalition des Präsidenten abdecken. Der beliebte Bürgermeister der nordfranzösischen Hafenstadt Le Havre, der unter Macron von 2017 bis 2020 Regierungschef struggle, sagt: Für eine weitere Amtszeit von Macron sei „eine Verbreiterung der Wählerbasis“ notwendig.
Mehr: Ex-Premier Philippe will für die Wiederwahl von Präsident Macron konservative Wähler anlocken