Düsseldorf Effiziente Geschäftsprozesse, robuste Lieferketten, detaillierte Klimabilanzen – für diese Themen kann sich Christian Klein begeistern. Der SAP-Chef hat den Softwarehersteller auf das Kerngeschäft mit betriebswirtschaftlicher Software (ERP) ausgerichtet. Wenn der Konzern am Donnerstagabend Quartalszahlen veröffentlicht, wird der Manager wieder Wachstumszahlen und Kundenprojekte referieren.
Über eine andere Disziplin redet Klein dagegen nur selten: das Management von Kundenbeziehungen, im Fachjargon Customer Relationship Management (CRM) oder Customer Experience (CX) umschrieben. Im Wettbewerb mit Marktführer Salesforce ist SAP seit Jahren abgehängt.
Nun sieht eine neue Strategie vor, dass sich der Softwarehersteller auf eine Nische konzentriert – und die Produkte für den Einsatz in ausgewählten Branchen wie Autoindustrie und Einzelhandel optimiert. In der Szene herrscht seit der Ankündigung im Januar Unsicherheit. Thomas Henzler, Vorstand bei der Nutzervereinigung DSAG, sagt: „SAP hat bis heute nicht klar kommuniziert, was die neue Strategie für die Kunden konkret bedeutet.“
Zumal der Konzern den Kurs im CRM-Geschäft mehrfach verändert hat. „Die Beständigkeit fehlt – bei der Kommunikation und bei der Technologie“, erklärt Henzler, in dessen Organisation Mitglieder aus 3800 Unternehmen im deutschsprachigen Raum vertreten sind. „Nach dem erneuten Strategie- und Personalwechsel muss SAP jetzt liefern.“
Hinter den Kulissen von SAP tut sich gerade viel. Kunden brauchen allerdings noch Geduld. Zwar schuf der Softwarehersteller im März die Struktur für die neue Strategie und legte die Produktentwicklung für die Bereiche CX und industriespezifische Lösungen zusammen. Die Umsetzung braucht allerdings ihre Zeit, erste Resultate dürften frühestens in einigen Monaten sichtbar sein.
Abgeschlagen hinter Salesforce
Mit dem Customer Relationship Management können Firmen alle Phasen einer Kundenbeziehung abbilden, von der Werbung über Preisgestaltung und Verkauf bis zum Service. Im „Zeitalter des Kunden-Kapitalismus“, wie es das Magazin „Harvard Business Review“ nennt, ist das ein gigantisches Geschäft: Nach Einschätzung des Marktforschungs- und Beratungsunternehmens Gartner wuchs der Umsatz im vergangenen Jahr um 14 Prozent auf 96 Milliarden Dollar. Kein Softwaremarkt ist größer.
Hinter den Kulissen des Softwarekonzerns tut sich gerade viel.
(Foto: IMAGO/Revierfoto)
Davon profitiert SAP jedoch kaum. Im vergangenen Jahr verlor der deutsche Softwarehersteller im CRM-Geschäft weiter an Boden, der Umsatz sank laut Gartner um elf Prozent auf 2,7 Milliarden Dollar (aktuell 2,4 Milliarden Euro), der Marktanteil auf 2,8 Prozent. Zum Vergleich: Salesforce ist mit 19,3 Prozent Marktführer, vor Oracle und Adobe. Der deutsche Konzern selbst legt keine Zahlen zu dem Segment vor.
Gartner-Analystin Ilona Hansen beobachtet, dass SAP bei offenen Ausschreibungen für CRM-Produkte schon seit Jahren kaum eine Rolle spiele. Erfolge habe der Konzern primär beim Verkauf von Produktpaketen, bei denen Kunden zu einem Finanzsystem beispielsweise eine Lösung für den Onlinehandel kaufen.
Hansen: „SAP konzentriert sich auf das ERP-Geschäft. Alle anderen Produktlinien ordnen sich diesem Ziel unter.“
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Das war vor ein paar Jahren noch anders. Kleins Vorgänger Bill McDermott posaunte, dass SAP die Kategorie „neu definieren“ und „mehr verkaufen“ werde als Marktführer Salesforce. Unter der Führung des Amerikaners übernahm der Konzern mehrere Firmen rund ums Kundenmanagement, darunter den Onlinemarktforscher Qualtrics – den Klein im Zuge der Fokussierung gerade wieder verkauft hat.
SAP konzentriert sich auf das ERP-Geschäft. Alle anderen Produktlinien ordnen sich diesem Ziel unter. Gartner-Analystin Ilona Hansen
Nun soll aus der Not eine Tugend werden. „Als ich kam, fragte ich mich die ganze Zeit: Was ist besonders an SAP? Wir wollen nicht Salesforce, Microsoft oder Oracle sein“, sagt Ritu Bhargava, die 2021 von Salesforce kam und die Produktentwicklung des neuen Bereichs leitet. Die Antwort: Neben der Verankerung im Geschäft mit betriebswirtschaftlicher Software zählt dazu die detaillierte Kenntnis über viele Branchen.
Bhargava gibt nun als Ziel aus, diese Stärken zu kombinieren. „Wir wollen die besten CX-Lösungen für den Handel, die Autoindustrie, Versorger oder die Fertigungsindustrie entwickeln“ – eingebunden in die betriebswirtschaftlichen Prozesse für Lagerhaltung, Logistik oder Finanzen, die zahlreiche Unternehmen bereits mit SAP-Systemen abwickeln.
Vom Lagerhaus zum Onlineshop
Bhargava sieht in solchen Branchenlösungen ein Alleinstellungsmerkmal. Zum Beispiel im Einzelhandel: In einer idealen Welt wird im Onlineshop eines SAP-Kunden nur Ware angezeigt, die auf Lager liegt oder innerhalb weniger Tage verfügbar ist – dank der Daten aus der Lagerhaltung oder der Logistik. Damit gibt es keine unliebsamen Lieferverzögerungen.
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Ein Geschäftsprozess lässt sich auch mit Komponenten unterschiedlicher Anbieter durchgängig steuern, dank Schnittstellen und Integrationssoftware. Bhargava hält es aber für einen Vorteil, wenn Kunden aufeinander abgestimmte SAP-Produkte einsetzen, die etwa ein einheitliches Datenmodell nutzen.
Sie vergleicht das mit dem iPhone: Das Smartphone von Apple funktioniere mit allen Kopfhörern – aber am besten mit den Airpods des Herstellers selbst. Als Kunden vermeldete SAP jüngst den Gewürzhersteller Nedspice und den Saatgutanbieter KWS Saat.
Kunden haben noch viele Fragen
Intern ist diese Fokussierung weitgehend unstrittig. Um in allen Kategorien mit Salesforce zu konkurrieren, fehle SAP das Budget, heißt es in Führungskreisen. Bei Speziallösungen beispielsweise für Autohersteller, Einzelhändler oder Maschinenbauer könne der Konzern aber seine Stärken ausspielen. So gilt die Commerce Cloud, mit der Unternehmen ihren Onlineshop organisieren, in der Branche als führend, vor Oracle und Salesforce.
Um in allen Kategorien mit Salesforce zu konkurrieren, fehlt SAP laut Insidern das Budget.
(Foto: AP)
Für Branchenbeobachterin Hansen steht die Strategie unter dem Motto „Zurück in die Zukunft“. „Mit dieser CRM-Strategie vollzieht SAP ein Versprechen, das der Konzern schon seit vielen Jahren gibt: die nahtlose Verzahnung der Produkte für die ganzheitliche Erfüllung eines Geschäftsprozesses.“ Das CRM-Geschäft spiele dabei eine untergeordnete Rolle: „Produktneuerungen werden in erster Linie in der ERP-Produktlinie stattfinden.“
An Entschlossenheit mangelt es bei SAP nicht. Die Kanban-Boards von Bhargavas Truppe sind allerdings randvoll. Die Entwickler dürften zunächst noch einige Zeit damit beschäftigt sein, die Programme für Vertrieb und Kundendienst zu modernisieren – etliche Funktionen, die zum Start der neuen Versionen nicht enthalten waren, müssen nachgeliefert werden. Die Arbeit an den Speziallösungen, die das Management in Aussicht stellt, läuft parallel.
„Die Community fragt sich zu Recht, ob wir es ernst meinen“, sagt Sven Denecken, der für die Positionierung und Vermarktung des CX-Portfolios verantwortlich ist und mit Ritu Bhargava die neue Strategie entwickelt hat.
Die Community fragt sich zu Recht, ob wir es ernst meinen. SAP-Manager Sven Denecken
Der Konzern investiere weiter ins Portfolio und werde im Oktober erste industriespezifische Funktionen in den vier Kernbranchen zeigen und Kundenbeispiele nennen. „Ich messe der Kommunikation – untermauert mit Fakten – eine große Bedeutung zu, um die Unsicherheit aus dem Markt zu bekommen.“
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Die Erklärungen sind nötig, das zeigt der Zwischenstand einer noch laufenden Umfrage unter DSAG-Mitgliedern. Das Stimmungsbild zeige, dass die meisten SAP-Kunden von der neuen Strategie gehört, diese aber nicht verstanden hätten, berichtet Vorstand Henzler.
Viele seien unsicher, ob ihre Unternehmen in die neue Generation der CRM-Produkte investieren sollen – zumal sie gerade noch frühere Versionen der Programme einführten. Wohlgemerkt: Die Befragung ist nicht repräsentativ, aber die Antworten stammen von IT-Managern, die viel mit SAP-Produkten arbeiten.
Der IT-Manager, im Hauptberuf Chief Information Officer (CIO) des Maschinenbauers Piller Blowers & Compressors und selbst SAP-CX-Kunde, nennt einige Fragen: Welche Funktionen wird die neue Softwaregeneration erhalten und wann?
Und wie hoch ist der Aufwand, Daten und individuelle Anpassungen an die Software von einer alten Version auf die neue zu übertragen? „Für Unternehmen, die jetzt neue CRM-Systeme einführen wollen, ist die Entscheidung gerade nicht einfach“, sagt Henzler.
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