Berlin Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) geht auf Nummer sicher. Angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine müsse gewährleistet sein, dass Kohlekraftwerke als Again-up zur Verfügung stünden, heißt es in einem am Donnerstagnachmittag veröffentlichten Papier des Ministeriums. Darin wird auf Braunkohlekraftwerke aus der sogenannten Sicherheitsbereitschaft verwiesen.
„Kraftwerke in der Sicherheitsbereitschaft befinden sich in der Kaltreserve, sind additionally abgeschaltet, sie können aber bei Bedarf aktiviert werden. In der Sicherheitsbereitschaft befinden sich Braunkohlekraftwerke in einem Umfang von 1,9 Gigawatt (GW)“, heißt es in dem Papier weiter.
Man prüfe, „ob und inwiefern auch zur Stilllegung anstehende Kraftwerke in eine vorübergehende Reserve überführt werden können, damit sie im Notfall zu Verfügung stehen“. Die Sicherheitsbereitschaft ist zeitlich befristet. Ziel sei es, „den Gasverbrauch zu reduzieren und im kommenden Winter die Versorgungssicherheit sicherstellen zu können“.
Habeck hatte zwar zuletzt immer wieder betont, er halte am Ziel der Ampelkoalition fest, den Kohleausstieg möglichst von 2038 auf das Jahr 2030 vorzuziehen. Auf dem Weg dorthin scheint er aber zu Kompromissen bereit zu sein.
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Der Vorstoß ist Bestandteil einer ganzen Reihe von Maßnahmen, die dazu beitragen sollen, die Versorgungssicherheit zu erhöhen. Im Mittelpunkt der Bemühungen steht der Ausbau der erneuerbaren Energien und der Hochlauf einer Wasserstoff-Wertschöpfungskette. Aber auch eine neue Regulierung für die Befüllung von Gasspeichern, die Beteiligung des Bundes an dem Bau eines Flüssiggasterminals sowie die Schaffung einer nationalen Steinkohlereserve gehören zu den Maßnahmen.
Braunkohlestrom ist klimaschädlich, kann aber als wichtige Reserve dienen
Die Braunkohleverstromung ist zwar besonders klimaschädlich, angesichts drohender Versorgungsengpässe empfehlen aber viele Fachleute, die Braunkohlekraftwerke nicht planmäßig stillzulegen. So hatte Ottmar Edenhofer, Direktor des Potsdam Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), kürzlich im Interview mit dem Handelsblatt empfohlen, auf die Braunkohlekraftwerke zurückzugreifen. Edenhofer sprach von einer „Notsituation“.
Ein RWE-Sprecher erklärte: „Es ist das Gebot der Stunde, dass die Politik das ganze Spektrum der Maßnahmen ins Auge fasst, mit denen unsere Abhängigkeit von Rohstoffeinfuhren aus Russland verringert werden kann. Eine Möglichkeit kann dabei sein, Kohlekraftwerke, die sich in der Reserve oder Sicherheitsbereitschaft befinden, wieder zu nutzen.“ Auch könne geprüft werden, ob bereits stillgelegte Anlagen zurück ans Netz gebracht werden könnten.
Die Verschiebung von Stilllegungen, die in diesem Jahr anstehen, wäre eine weitere Möglichkeit, dem System zu helfen. „Für unsere Braunkohlekraftwerke prüfen wir das, damit wir handlungsfähig sind, wenn die Bundesregierung derartige Maßnahmen für notwendig erachtet“, so der RWE-Sprecher weiter.
Bei der Sicherheitsbereitschaft handelt es sich um Braunkohlekraftwerke, die als „letzte Reserve“ für den Fall vorgehalten werden, dass die Stromproduktion nicht ausreicht, um den Verbrauch zu decken. Bei einer Anforderung durch die Übertragungsnetzbetreiber müssen die Anlagen innerhalb von zehn Tagen betriebsbereit sein. Sie müssen dann innerhalb von elf Stunden auf „Mindestteilleistung“ und innerhalb von weiteren 13 Stunden auf ihre „Nettonennleistung“ angefahren werden können.
Allerdings stehen die Kraftwerke nach geltendem Recht nur für jeweils vier Jahre zur Verfügung. Der erste der insgesamt acht Braunkohlekraftwerksblöcke der Sicherheitsbereitschaft ging im Oktober 2016 für vier Jahre ans Netz und ist damit bereits wieder aus der Sicherheitsbereitschaft ausgeschieden.
Derzeit befinden sich Braunkohlekraftwerke mit einer Leistung von 1,9 Gigawatt (GW) in der Sicherheitsbereitschaft. Die letzten beiden der acht Blöcke – Neurath von RWE und Jänschwalde von LEAG – gingen am 1. Oktober 2019 in die Sicherheitsbereitschaft und würden damit planmäßig am 1. Oktober 2023 vom Netz gehen. Dieses Enddatum könnte nun möglicherweise verschoben werden.
Netzbetreiber müssen Angebot und Nachfrage balancieren
Damit in möglichst allen Engpasssituationen ausreichend gesicherte Kraftwerkskapazität zur Verfügung steht, hat der Gesetzgeber in den vergangenen Jahren bereits eine Vielzahl von Absicherungsinstrumenten entwickelt. Die Sicherheitsbereitschaft ist eines dieser Instrumente. Dazu zählen aber auch etwa die Kapazitätsreserve und die Netzreserve.
Auf die Kapazitätsreserve greifen die Übertragungsnetzbetreiber zu, wenn auf dem Großhandelsmarkt kein ausreichendes Angebot zur Deckung der gesamten Nachfrage zur Verfügung steht. Dazu werden bestehende Erzeugungsanlagen, Speicher oder Lasten außerhalb des Strommarkts vorgehalten und bei Bedarf auf Anweisung der Übertragungsnetzbetreiber eingesetzt. Aktuell steht in der Kapazitätsreserve eine Leistung von 1,06 GW zur Verfügung.
Die Netzreserve wiederum wird gebildet aus systemrelevanten inländischen Kraftwerken, die von den Betreibern vorläufig oder endgültig stillgelegt werden sollten. Auch ausländische Kraftwerke können für die Netzreserve eingesetzt werden. Die Netzreserve wird jedes Jahr jeweils im Winterhalbjahr gebildet, um Kraftwerkskapazitäten für Eingriffe der Übertragungsnetzbetreiber vorzuhalten.
Hintergrund ist, dass der Strombedarf im Winter in der Regel besonders hoch ist, während gerade in den Windparks im Norden Deutschlands viel Strom produziert wird. Aufgrund von Netzengpässen auf dem Weg vom Norden in den Süden müssen die Übertragungsnetzbetreiber dann häufig Kraftwerke im Norden abschalten und Anlagen im Süden mit gleicher Leistung hochfahren („Redispatch“), um das Stromnetz zu entlasten und den Bedarf vollständig zu bedienen. Für den Winter 2021/2022 hat die Netzreserve 5,67 GW Leistung.
Mehr: Wie die Industrie den Gasverbrauch reduzieren will