Düsseldorf Die eine Zahl lässt keinen Zweifel, dass der Angriff des russischen Präsidenten Wladimir Putin vor allem die Menschen in der Ukraine trifft: Fünf Millionen von ihnen, so prognostiziert es an diesem Montagnachmittag die Europäische Kommission, werden vermutlich ihre Heimat verlassen. Auf der Flucht vor Raketen, Bomben, Gewalt, die Russlands Soldaten derzeit über ihr Nachbarvolk bringen.
Und doch sind da, am elften Tag dieses Krieges, immer mehr Nachrichten, die zeigen, wie sich diese Tragödie längst auch in das Leben Millionen weiterer Menschen auf der Welt frisst. Da ist die Regierung des Irak, die aus Angst vor einer Lebensmittelknappheit in Folge zerstörten Weizenanbaus in der Ukraine für 100 Millionen Greenback am Weltmarkt Weizen kauft. Oder da sind die Europäer, die spätestens zu Beginn dieser neuen Kriegswoche merken: Die jahrelange Abhängigkeit, in die sie sich unter deutscher Führung vom Energielieferanten Russland begeben hat, rächt sich nun: durch rekordverdächtig nach oben schnellende Preise für Öl, Gasoline und andere Energierohstoffe.
Über alle dem schwebt eine Frage: Wer könnte den verfeindete Parteien dabei helfen, einen Weg aus diesem Krieg zu finden? Die westlichen Spitzenpolitiker dürften es kaum noch sein. Die Staats- und Regierungschefs der USA, Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens forderten Russland am Montagabend zwar erneut auf, seine Angriff auf die Ukraine zu stoppen „und seine Truppen komplett zurückzuziehen“. Man sei sich einig gewesen, dass der Schutz der Zivilbevölkerung derzeit höchste Priorität haben müsse, teilt Regierungssprecher Steffen Hebestreit nach einer Schalte von Joe Biden, Olaf Scholz, Emmanuel Macron und Boris Johnson mit. Nur: Gehört werden sie von Russlands Präsident Wladimir Putin schon länger nicht mehr.
Der chinesische Außenminister wiederum klang heute während einer Pressekonferenz in seiner ganzen Parteinahme für Russland nicht so, als ob er sich in dieser Rolle sähe. Dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gelingt es immerhin, die Außenminister beider Parteien an einem Ort zu versammeln. Sie sollen sich am Donnerstag mit ihrem türkischen Amtskollegen Mevlüt Cavusoglu im türkischen Küstenort Antalya treffen.
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Ob es aber mehr bringt als das Treffen der mittlerweile schon bekannten Delegationen aus russischen und ukrainischen Diplomaten? Deren dritte Verhandlungsrunde endete am Donnerstagabend. Es gebe kleine constructive Schritte bei der Verbesserung der Logistik für die humanitären Korridore, sagte der ukrainische Präsidentenberater Michailo Podoliak. Der russische Verhandlungsführer Wladimir Medinski sagte, dass es an diesem Dienstag einen neuen Anlauf geben solle, um die Menschen über die Korridore in Sicherheit zu bringen.
Die dritte Runde der Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine hatte in Belarus rund drei Stunden gedauert. Die belarussische Staatsagentur Belta hatte im Nachrichtenkanal Telegram ein Bild der Delegationen an einem Tisch veröffentlicht.
Und so stellt sich Europa weiter darauf ein, dass immer eher die nächst-schlimmere als die nächst-bessere Entwicklung eintritt. Von den bis zu fünf Millionen Kriegsflüchtlingen, mit denen die EU rechnet, sind jetzt bereits etwa 1,6 Millionen angekommen, sagte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell am Montag nach einem Treffen der Entwicklungsminister der EU-Staaten in Montpellier. „Eine so große Flüchtlingsbewegung haben wir seit Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr erlebt.“
Um die Menschen in der Ukraine und Kriegsflüchtlinge im Nachbarland Moldau zu unterstützen, sollen nach Angaben von Borrell in einem ersten Schritt knapp 100 Millionen Euro für humanitäre Nothilfe bereitgestellt werden. Mit dem Geld könnten unter anderem Nahrungsmittel, Wasser und Unterkünfte finanziert werden. Schätzungen zufolge seien innerhalb der Ukraine mehr als 18 Millionen Menschen von dem Krieg betroffen, sagte Borrell.
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Russische Truppen vermelden Geländegewinne
Auch, weil die Aggressivität Russlands nicht nachlässt. Russische Truppen sollen demnach am Montag weiterhin harte Angriffe auf ukrainische Städte und zivile Infrastruktur gefahren haben. Russland habe fünf Siedlungen an der Grenze der Gebiete Donezk und Saporischschja eingenommen, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau mit.
Den Einwohnern der Ortschaften „wird humanitäre Hilfe zuteil“, hieß es. Zudem hätten Kampfjets und Bomber 26 weitere militärische Objekte zerstört, teilte das Ministerium weiter mit. Darunter seien zwei Kommandoposten, eine Radarstation und fünf Munitionsdepots. Russland beharrt darauf, die Truppen griffen keine zivilen, sondern nur militärische Ziele an.
Die ukrainischen Streitkräfte fügten den Angreifern nach eigenen Angaben schwere Verluste bei. Einige russische Einheiten hätten bei Kämpfen um Konotop und Ochtyrka im Nordosten des Landes bis zu 50 Prozent ihres Personals verloren. „Der moralische und psychologische Zustand des Feindes bleibt extrem niedrig“, behauptete der Generalstab in Kiew. Russische Soldaten würden in Scharen desertieren. Der Generalstab warf den russischen Truppen vor, noch schwerere Luftangriffe auf ukrainische Städte zu fliege. Die Angaben der beiden Kriegsparteien ließen sich nicht von unabhängiger Seite überprüfen.
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USA verstärken Truppen im Baltikum
US-Außenminister Antony Blinken kündigte angesichts dessen weitere US-Truppen für das Baltikum an. In den kommenden Tagen sollen zusätzliche 400 Soldaten in Litauen ankommen, sagte er am Montag nach einem Treffen mit seinem Kollegen Gabrielius Landsbergis in Vilnius. Die USA hatten nach dem russischen Angriff auf die Ukraine rund 7000 weitere Soldaten nach Europa verlegt. Ein Teil des Kontingents soll nun in dem baltischen EU- und Nato-Land stationiert werden. Bei einem Besuch in Lettland sagte Blinken zudem Hilfe zu, um die Cyber- und Energiesicherheit zu stärken
Zugleich versicherte Blinken den baltischen Staaten die Solidarität der USA. Washington sei weiterhin „eisern“ dem Artikel 5 des Nato-Vertrags verpflichtet, die Verpflichtung zu gegenseitigem Beistand sei „unantastbar“. Daran sollte niemand irgendwelche Zweifel haben, sagte er nahezu wortgleich in Litauen und Lettland. Die USA seien mehr denn je entschlossen, den Baltenstaaten zur Seite zu stehen.
Blinkens baltische Gesprächspartner sprachen sich für eine weitere Stärkung der Nato-Ostflanke aus. Konkret erhoffen sie sich mehr Unterstützung bei der Luftverteidigung, die als Schwachstelle der drei Baltenstaaten gilt. „Wir arbeiten an diesem Thema“, antwortete Rinkevics auf eine entsprechende Frage bei der Pressekonferenz..
Derweil wird immer klarer, dass der Krieg die westlichen Staaten nicht nur zur militärischen Aufrüstung zwingt, sondern auch ökonomisch völlig neue Bemühungen erfordert. Denn immer klarer wird: Zwar treffen die Sanktionen die russische Wirtschaft so hart, wie vermutlich die russische Regierung nie erwartet hätte.
Allerdings verursachen sie auch hohe Kosten in den europäischen Ländern. Im Großhandel für Erdgas stiegen die Preise am Montag in neue Dimensionen. Eine Megawattstunde (MWh) kostete an der niederländischen Börse TTF rund zehn bis 20 Mal so viel wie vor einem Jahr. Zwischenzeitig bewegte sich der Preis gegen 350 Euro, im März 2021 hatte der Tagesendwert nie über 20 Euro gelegen.
Rohstoffpreise auf Rekordniveau
„Solche Ausschläge haben wir noch nie gesehen. Das ist historisch einmalig und das Most haben wir sicher noch nicht erreicht“, sagte Fabian Huneke von der Energiemarktforschung Vitality Brainpool. Europa hat mittlerweile die höchsten Gaspreise der Welt.
Und das dürfte erst der Anfang sein. Längst diskutieren westliche Regierungen, auch kein Öl aus Russland mehr zu importieren – und suchen nach Alternativen am Weltmarkt. Da es die nicht unbegrenzt gibt, dürften allein die Überlegungen den Preis in den nächsten Tage weiter treiben. Es gilt nicht mehr als ausgeschlossen, dass der Westen vor allem auf Druck der US-Regierung zu diesem Schritt greift. Die Solidarität mit der Ukraine würde sich dann tatsächlich auch im Alltag vieler Menschen in Europa und Nordamerika bemerkbar machen.
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EU skeptisch zu Ukraine-Beitritt
An anderer Stelle allerdings zeigte Europa an diesem Montagabend, dass die Solidarität auch Grenzen hat: Mehrere westliche Länder der Europäischen Union wehren sich gegen die Forderung, der Ukraine noch in dieser Woche den Standing eines EU-Beitrittskandidaten zuzubilligen. Der wäre ein erster Schritt auf einem langen Weg zur EU-Mitgliedschaft. Dies berichten mehrere Diplomaten.
Die EU-Staaten haben nun die Kommission beauftragt, eine Stellungnahme zur Beitrittsreife der Ukraine abzugeben.
Deutschland, die Niederlande und andere Länder wollen, sich auf die Beendigung des Krieges und die praktische Unterstützung der Ukraine konzentrieren, anstatt einen Prozess anzustoßen, der mindestens ein Jahrzehnt dauern könnte, so die Diplomaten, die von privaten Gesprächen im Vorfeld eines Gipfels in Frankreich in dieser Woche berichteten.
In einem Konflikt, der jeden Tag neue Höhepunkte des Grauens produziert, scheint ein Jahrzehnt dann doch etwas weit weg. Mehr Image als Lösung.
Mit Agenturmaterial.
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