Die Skepsis der Anleger nahm zu, als Medien über eine Verhandlungspause im Schuldenstreit in den USA berichteten. Auch die wichtigsten US-Indizes rutschten ins Minus.
Gestritten wird über eine Anhebung der Schuldenobergrenze in den USA von aktuell 31,4 Billionen Dollar. Ohne Einigung droht den Vereinigten Staaten laut Finanzministerium ab Juni die Zahlungsunfähigkeit, was das globale Finanzsystem erschüttern würde.
Dabei hatten sich Investoren gerade zu einer etwas positiveren Sichtweise auf Aktien durchgerungen und verstärkt gekauft. Monatelang waren viele Anleger den steigenden Kursen hinterhergelaufen. „Investoren haben sich gezwungen gesehen, wieder einzusteigen“, kommentiert Marcus Poppe, Co-Leiter europäische Aktien bei der DWS und Fondsmanager, die jüngste Kursentwicklung. „Manchmal will man eben das Glas halbvoll statt halbleer sehen.“
Bei fünf Themen werden die Investoren in den kommenden Wochen Chancen und Risiken gegeneinander abwägen – und die Kurse entsprechend bewegen. Ein Überblick:
Firmenzahlen
Die Chancen: Als Treiber für die Erholung der Aktienmärkte erkennt Poppe vor allem die Erleichterung darüber, dass sich die Furcht vor einem Wirtschaftsabschwung in Europa nicht bewahrheitet habe. Im Zuge nachgebender Energiepreise seien auch die Kosten der Unternehmen wieder gesunken. Der Rohölpreis hat sich in den vergangenen zwölf Monaten um rund ein Drittel verringert, der Gaspreis sogar um fast zwei Drittel.
Die Unternehmensergebnisse sind in der Folge im ersten Quartal besser ausgefallen als erwartet. Die Gewinnprognosen der Analysten für europäische Aktien wurden um elf Prozent übertroffen, das Gewinnwachstum betrug im Schnitt knapp sechs Prozent.
Vor allem die Industrie- und die Autobranche hätten sich deutlich besser als erwartet entwickelt, sagt Poppe von der DWS. Die Furcht, dass der Konsum und als Folge die Gewinne wegbrechen könnten, habe sich nicht bewahrheitet. Die Stimmung sei zwar noch nicht gut, aber die jüngsten Lohnsteigerungen dämmten Reallohnverluste ein.
Die Dax-Unternehmen könnten in diesem Jahr per saldo eine leicht positive Gewinnentwicklung verbuchen. Dafür müsste sich die Chemiebranche erholen und die Autobranche ihre „Gewinnparty“ über Preiserhöhungen fortsetzen können, sagen die Strategen.
Nach Ansicht von Ann-Katrin Petersen, Kapitalmarktstrategin beim US-Fondshaus Blackrock, könnten auch beherzte und beschleunigte Investitionen in Energiesicherheit und Verteidigung sowie eine grüne Transformation der Wirtschaft für Aktienkurssteigerungen sorgen.
Die Risiken: Der Blick nach vorn für die Firmen ist deutlich trüber. Die Auftragseingänge gingen bereits teilweise zurück, sagt Poppe. Für ihn wird „die Großwetterlage nicht besser, sondern eher schlechter“. Der Fondsmanager rechnet in Europa nicht damit, dass die Firmengewinne im Schnitt in den nächsten zwölf Monaten anziehen.
Petersen bleibt ebenfalls vorsichtig: Der Inflationsdruck angesichts enger Arbeitsmärkte und steigender Löhne könnte hartnäckiger sein als erwartet und die Europäische Zentralbank (EZB) zu einer noch kräftigeren Zinsstraffung bewegen, fürchtet sie.
Die EZB könnte die Zinsen bald noch weiter erhöhen.
(Foto: IMAGO/Political-Moments)
Auch eine stärkere Verschärfung der Kreditbedingungen als erwartet sei in Europa ein Risiko. Und die Unsicherheit über die Energieversorgung sei vor dem nächsten Winter nicht überstanden, meint sie. Christoph Witzke, leitender Stratege bei der Sparkassenfondstochter Deka Investment, warnt, dass nach wie vor nicht klar sei, ob eine Rezession in Europa abgewendet sei.
Aktienbewertung
Die Chancen: Positiv sieht Poppe von der DWS, dass die Bewertungen der Aktien in Europa im Schnitt deutlich niedriger seien als die in den USA. Der Dax und der breite europäische Index Stoxx 600 liegen mit Kurs-Gewinn-Verhältnissen von unter elf und gut zwölf auf historisch niedrigen Niveaus, klar unterhalb der führenden US-Börsenbarometer S&P 500 und Nasdaq mit rund 17 und 23. Die europäischen Aktienmärkte seien selbst nach der Aufwärtsbewegung in diesem Jahr weder im internationalen noch im historischen Vergleich überteuert, meint auch Strategin Petersen.
Die Risiken: Bewertungen der Aktien könnten auch täuschen, warnen die Strategen. Denn damit die Firmengewinne als ein Element der Bewertung sich wie erwartet entwickelten, müsste das wirtschaftliche Umfeld stimmen – und genau daran gibt es Zweifel. Petersen von Blackrock warnt ebenfalls, dass Investoren Risiken für Unternehmensgewinne und das Wirtschaftswachstum im Blick behalten sollten.
Kapitalmarktzinsen
Die Chancen: An den Aktienmärkten rechnet man nun damit, dass die Zinsen nicht mehr viel weiter steigen. Für 2024 werden erste Zinssenkungen erwartet. Hauptgrund sind die rückläufigen Inflationsraten sowohl in den USA und in Europa. Laut Witzke von der Deka werden die Aktienkurse von der Zinsseite daher eher gestützt. Zwar liefen die Inflationsraten in der Euro-Zone denen aus den USA hinterher. Aber es gebe bereits einzelne Länder wie Spanien, wo die Produzentenpreise schon sinken.
Die Risiken: Sollte die Konjunktur stärker als erwartet laufen, könnten weiter anziehende Zinsen doch den Konsum und die Investitionen – und damit auch die Firmengewinne – stärker belasten, meint Poppe. Das gelte für die USA wie auch für Europa. Witzke sorgt sich wegen der Folgeeffekte des hinter uns liegenden Zinsanstiegs: Der könne die Refinanzierung von Firmen belasten und zu weiteren deutlichen Kursrückschlägen führen.
Was die US-Notenbank Fed angeht, dürften Zinssenkungshoffnungen am Markt angesichts des hartnäckigen unterliegenden Inflationsdrucks enttäuscht werden, sagt Petersen. Die US-Notenbanker müssten ihre restriktive Haltung wohl noch für längere Zeit beibehalten.
Die Geldpolitik der Notenbanken ist ein entscheidender Faktor auch für die Entwicklung Aktienmärkte.
(Foto: dpa)
Die US-Geldpolitik ist derzeit schwer einzuschätzen. Zuletzt gab es wieder Stimmen aus der Fed, die auf weiter anziehende Zinsen hindeuten. Fed-Chef Jerome Powell hielt aber dagegen: Die Nachwirkungen des jüngsten US-Bankenbebens erleichtern seiner Meinung nach den Kampf gegen die Inflation. Wegen strafferer Kreditkonditionen müssten die Zinsen womöglich nicht so stark steigen, wie es ansonsten der Fall wäre, sagte er auf einem Gesprächsforum in Washington.
Mit zuletzt 4,9 Prozent ist die Inflation jedoch noch weit vom Ziel der Fed entfernt. Das gilt auch für Europa. Die Europäische Zentralbank (EZB) hat die Leitzinsen zwar so schnell wie nie zuvor in ihrer Geschichte angehoben, aber viele Strategen wie Petersen rechnen mit ein bis zwei weiteren Schritten. Und diese sind ihrer Ansicht nach in den Aktienkursen bisher nicht vollständig enthalten.
USA
Die Chancen: Eine politische Einigung im Schuldenstreit in den USA, die es in der Vergangenheit in solchen Fällen immer gegeben hat, dürfte sehr schnell zu einer Entspannung an den Märkten beitragen. US-Präsident Joe Biden US-Präsident Joe Biden machte am Wochenende Druck in Richtung der republikanischen Gegenspieler im Kongress, dass ein staatlicher Zahlungsausfall keine Option sei.
Die Risiken: Sollte der aktuelle Streit um die Anhebung der US-Schuldenobergrenze allerdings nicht beigelegt werden, ist dies derzeit eines der größten Risiken für die Entwicklung der Aktienmärkte. Die Absicherungskosten gegen einen Zahlungsausfall der größten Volkswirtschaft der Welt in den kommenden zwölf Monaten – gemessen an den gehandelten Credit Default Swaps (CDS) – sind merklich angestiegen. Sie liegen aktuell sogar auf einem höheren Niveau als während der globalen Finanzkrise 2008/2009. Ihr Niveau ist auch höher als in den Jahren 2011 und 2013, als ebenfalls Sorgen vor einem Zahlungsausfall kursierten.
Zudem schwebt über allem das Risiko einer tiefer als antizipierten Rezession in den USA, die auch die Aktienmärkte empfindlich träfe.
China
Die Chancen: Der Preisauftrieb in China ist trotz der wirtschaftlichen Erholung fast zum Erliegen gekommen. Das verschafft der chinesischen Notenbank Spielraum für die Unterstützung der Wirtschaft. Das wiederum könnte den Aktienkursen Auftrieb verschaffen. Investoren hoffen insbesondere auf eine positive Wirtschaftsentwicklung in der zweiten Jahreshälfte.
Die Risiken: Die jüngsten Konjunktursignale aus China seien allerdings schwächer als erhofft, meint Poppe. Der Start ins Jahr sei zwar zunächst gut ausgefallen, doch der Aufschwung der chinesischen Wirtschaft sei nachfolgend bereits ins Stocken geraten. Insbesondere das verarbeitende Gewerbe komme nicht voran, sagt Tommy Wu, Analyst der Commerzbank. Hintergrund sei das erschütterte Vertrauen der Unternehmen und Konsumenten in die Wirtschaftspolitik. Dies bremse die Erholung des Arbeitsmarktes und belaste den Konsum und damit auch den Dienstleistungssektor. Der schwächelnde Immobilienmarkt könne zudem die Erholung der Wirtschaft verlangsamen, fürchten die Strategen.
Die Skepsis überwiegt
Unter dem Strich schließt aktuell niemand eine neuerliche deutliche Korrektur an den Aktienmärkten von bis zu zwanzig Prozent aus. Dafür müsse allerdings etwas Unvorhergesehenes passieren, meint Poppe.
Schon in der neuen Woche könnten wichtige Konjunkturindikatoren in Europa wie auch in den USA neue Hinweise geben. Strategen rechnen eher mit einer Verschlechterung der Stimmung in der Wirtschaft und bei Verbrauchern.
Mit Blick auf die Gesamtlage bleiben die Experten wie viele Investoren eher vorsichtig: „Es ist nicht die Zeit, um zu optimistisch zu werden“, resümiert der DWS-Fondsmanager. Auch die Ungewissheit über die weitere Entwicklung des Ukrainekriegs nennen die Strategen als Belastungsfaktor.
Auf längere Sicht erkennen die Strategen allerdings Chancen für Aktien. Mittelfristig könnten die Aktienkurse wieder zehn bis fünfzehn Prozent klettern, meint Poppe. Witzke von der Deka hält nach der zweistelligen Korrektur 2022 in den kommenden zwölf Monaten weitere Kurssteigerungen für möglich.
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