Düsseldorf, Brüssel In keinem Anderen Land haben Unternehmen ihre Ausgaben für Forschung und Entwicklung (F&E) im vergangenen Jahr so sehr gesteigert wie in den USA. Europäische Firmen fallen derweil immer weiter zurück. Das zeigen Berechnungen der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young (EY), die dem Handelsblatt exklusiv vorliegen.
Demnach haben die fünf forschungsintensivsten Unternehmen der Welt – Amazon, Alphabet, Meta, Apple und Microsoft , allesamt aus den USA – im abgelaufenen Geschäftsjahr 189 Milliarden Euro in ihre F&E-Budgets gesteckt, dreimal so viel wie die 29 forschungsintensivsten deutschen Unternehmen zusammen.
Und diese Investitionslücke wird immer größer. Während die US-Unternehmen ihre F&E-Ausgaben 2022 um 16 Prozent erhöhten, stiegen die entsprechenden Ausgaben der deutschen Unternehmen nur um elf Prozent. Mittlerweile entfällt die Hälfte der weltweiten kommerziellen F&E-Ausgaben auf US-Konzerne.
„Der Wirtschaftsstandort Deutschland steht unter Druck wie wahrscheinlich noch nie zuvor in seiner Geschichte“, warnt EY-Deutschlandchef Henrik Ahlers. Hohe Energie- und Produktionskosten, schwer zu beschaffende Rohstoffe mit unsicheren Lieferketten und erhebliche geopolitische Spannungen seien eine herausfordernde Mischung für die Exportnation Deutschland.
„Wir brauchen eine gute Infrastruktur, weniger Bürokratie, attraktive Förderprogramme und eine stärkere Investitionskultur“ fordert die CSU-Europapolitikerin Angelika Niebler.
Deutsche Autobauer investieren kräftig in die Antriebswende
Keine Branche befindet sich so sehr im Umbruch wie die Automobilindustrie. Der Wechsel vom Verbrenner- zum Elektroantrieb erfordert hohe Anstrengungen. Folgerichtig ragen unter den deutschen börsennotierten Konzernen die Autobauer heraus, wenn es um Forschung und Entwicklung geht.
BMW, Mercedes und Volkswagen gaben für diesen Posten im abgelaufenen Geschäftsjahr mit 26,6 Milliarden Euro so viel aus wie noch nie. Das entspricht 39 Prozent der Forschungsausgaben aller 29 deutschen Konzerne unter den 500 forschungsintensivsten Unternehmen der Welt.
Bei den Autobauern geht es vor allem um alternative Antriebskonzepte, Assistenzsysteme und die digitale Vernetzung. In Salzgitter errichtet Volkswagen eine Batteriezellfabrik. Hier sollen nicht nur Zellen hergestellt, sondern auch Forschung und Entwicklung rund um die zukunftsträchtige Batterietechnik betrieben werden.
Doch im Vergleich mit ihren Wettbewerbern geben die deutschen Unternehmen wenig für Forschung und Entwicklung aus. Europas größte Volkswirtschaft stellt mit ihren 29 Unternehmen unter den 500 forschungsintensivsten Unternehmen nur 5,8 Prozent der Top-Investoren. Bei den Ausgaben von insgesamt 68 Milliarden Euro sind es 7,6 Prozent. In der Folge wird die Dominanz der Amerikaner immer größer. Seit 2018 ist die Zahl der US-Konzerne unter den 500 forschungsintensivsten Unternehmen von 140 auf 164 gestiegen, die der Europäer von 142 auf 133 Unternehmen gesunken.
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Was für die großen deutschen Börsenkonzerne gilt, setzt sich in der Gesamtwirtschaft fort. „Im Vergleich zu anderen Industrieländern ist die F&E-Intensität der meisten Wirtschaftszweige in Deutschland unterdurchschnittlich“, sagt die Chefvolkswirtin der Förderbank KfW, Fritzi Köhler-Geib.
Nicht nur die Ausgaben der Großindustrie, sondern auch die kleiner und mittlerer Unternehmen liegen nach Erkenntnissen der KfW deutlich unter denen der meisten anderen Industrieländer. Dies bedeute auf der anderen Seite, so die Chefvolkswirtin, dass es ein großes Potenzial für eine Erhöhung der Ausgaben gebe.
Neuer Forschungsschub durch KI
Das Potenzial haben die amerikanischen Technologiekonzerne längst erkannt – und die Ausgaben dürften angesichts des Booms in der Künstlichen Intelligenz (KI) weiter steigen. Microsoft hat bereits zehn Milliarden Dollar in seine Partnerfirma Open AI investiert, dem Entwickler des Sprachmodells Chat GPT. Dabei geht es um eine Integration von KI-Sprachanwendungen in die mit Google konkurrierende Suchmaschine Bing.
Alphabet und Microsoft hoben bei Präsentation ihrer jüngsten Quartalsergebnisse die größeren Anstrengungen auf dem Feld der KI hervor. Microsoft-Chef Satya Nadella sprach von einer „neuen Ära“, die mit KI beginne. Mit Bargeldreserven von 115 Milliarden Dollar (Alphabet) und 104 Milliarden Dollar (Microsoft) haben beide Unternehmen höhere finanzielle Ressourcen, als jeder europäische Konzern.
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Der Facebook-Mutterkonzern Meta hat seit 2019 rund 40 Milliarden Dollar in Forschungsaktivitäten des geheimnisumwitterten Geschäftsbereichs „Reality Labs“ gesteckt. Dabei geht es um die virtuelle erweiterte Realität. Das Potenzial ist groß: Facebook hat weltweit 3,7 Milliarden Kunden, wodurch Meta rund 80 Prozent aller Menschen auf der Welt erreicht, die einen Internetzugang haben.
Forschungsintensivster IT-Konzern in Europa ist SAP
Der europäisch-amerikanische Vergleich zeigt, wie sehr die USA auf IT fixiert sind. In Europa lassen sich 17 Prozent der Unternehmen, die es ins Top 500-Ranking schaffen, dem forschungsintensiven Technologiesektor (einschließlich E-Commerce) zuordnen. Hingegen ist der Anteil in den USA mit 35 Prozent mehr als doppelt so hoch.
Forschungsintensivste IT-Konzerne in Europa sind SAP mit 6,2 Milliarden Euro Ausgaben im abgelaufenen Jahr, die Netzbetreiber Ericsson und Nokia folgen mit jeweils viereinhalb Milliarden Euro, dahinter der Halbleiterspezialist ASML mit 3,3 Milliarden Euro.
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Der unterschiedliche Branchenmix zwischen Europa und den USA samt Dominanz der forschungsintensivsten Konzerne in Amerika dürfte sich in den kommenden Jahren als gravierender Nachteil für die europäische Wirtschaft erweisen, fürchtet EY-Partner Ahlers: „Die Herausforderungen einer immer digitaleren Welt machen vor keiner Branche und keinem Unternehmen halt.“ Europapolitikerin Niebler sieht in der Bürokratie ein wesentliches Hindernis. „In Europa muss sich ein Unternehmen erst durch Aktenberge wühlen und dann monatelang warten, bis eine Entscheidung zum Fördermittelantrag gestellt wird. Das dauert einfach zu lange.“
IT-Konzerne wie Amazon zeigen seit Jahren eindrucksvoll, wie sehr Digitalunternehmen die Vorherrschaft in anderen Branchen, dem Handel, übernehmen. Das Nachsehen haben angestammte Marktführer wie Walmart in den USA – oder etwa in Deutschland die früheren Dax-Konzerne Kaufhof, Karstadt-Quelle und Metro. Keines der drei Handelskonzerne notiert mehr in der höchsten deutschen Börsenliga. An deren Abstieg hat der Forschungsweltmeister Amazon großen Anteil.
Die Chance der Biotechnologie
Der Blick ins Detail zeigt aber, dass Europa nicht in allen Bereichen hinterherhinkt. Die europäischen Pharma-Unternehmen investieren im Durchschnitt mit 17,4 Prozent einen höheren Umsatzanteil in F&E, als die US-Unternehmen. Ihr Anteil liegt bei 14,9 Prozent.
Am meisten investierte 2022 der Schweizer Pharmariese Roche mit 16 Milliarden Euro, das waren acht Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Der forschungsintensivste amerikanische Pharmakonzern, Johnson & Johnson, verringerte seine Ausgaben binnen eines Jahres um ein Prozent auf 13,9 Milliarden Euro.
Die europäischen Pharmakonzerne investieren gemessen am Umsatz mehr als ihre US-Pendants in Forschung und Entwicklung.
(Foto: imago images/Cavan Images)
In Deutschland ragen Bayer mit 6,6 Milliarden Euro und Merck mit 2,5 Milliarden Euro für F&E im abgelaufenen Jahr heraus. Ziel des Darmstädter Konzerns ist eine Verdoppelung der Produktivität im Bereich F&E.
Um durchschnittlich alle eineinhalb Jahre ein neues Produkt oder eine weitere Schlüsselindikation einzuführen, will Merck seine Kompetenzen fokussieren und Synergien innerhalb der vorhandenen Pipeline nutzen, um Medikamente in den Therapiegebieten Onkologie, Neurologie und Immunologie zu liefern.
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So konzentriert sich die Strategie im Bereich der Krebsforschung auf die Tumor-DNA und Karzinome des Kopfes und Halses. Das Healthcare-Geschäft investiert jedes Jahr rund 20 Prozent des Gesamtumsatzes in Aktivitäten zur Erforschung und Entwicklung neuartiger Therapien. Forschungsstandorte sind neben Darmstadt die USA mit Boston, China mit Peking und Japan mit Tokio.
Bayer konzentriert seine Forschungsausgaben auf Medizin und Landwirtschaft. Rund 15.000 Forscher sind für den Konzern tätig. In den kommenden Jahren hat Bayer milliardenschwere Investitionen in Deutschland versprochen. Eine Betriebsvereinbarung sieht vor, dass in der Pharmasparte der Großteil der Belegschaft in der Forschung und Entwicklung weiter in Deutschland beheimatet sein soll. Im Mittelpunkt stehen die Biotechnologie und Datenwissenschaft.
Um seine Pharmasparte weiterzuentwickeln, setzt Bayer auf neue Forschungsansätze in der Zell- und Gentherapie sowie bei Medikamenten gegen Krankheiten wie Parkinson oder Krebs. Bis 2030 will der Konzern in die Top 10 der Onkologie-Forschung aufsteigen. Die Anstrengungen sind nötig, denn in wenigen Jahren laufen bei Bayer Patente von wichtigen Medikamenten wie dem Gerinnungshemmer Xarelto oder dem Augenmittel Eylea ab.
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