Berlin, Brüssel Der russische Krieg gegen die Ukraine treibt die Debatte über ein neues Anleiheprogramm der Europäischen Union voran. Auf ihrem informellen EU-Gipfel an diesem Donnerstag und Freitag im französischen Versailles werden die Staats- und Regierungschefs über die Idee diskutieren.
Es gehe zunächst darum, ein Stimmungsbild einzuholen, erfuhr das Handelsblatt aus EU-Kreisen. Ein konkreter Vorschlag der Kommission wird noch nicht erwartet. Dieser soll erst im zweiten Schritt erarbeitet werden – sofern die Mitgliedstaaten den politischen Willen dazu haben.
Diskutiert wird, mit zusätzlichen EU-Anleihen die Transformation des Energiesektors voranzutreiben, um schneller von russischen Gasoline-, Öl- und Kohlelieferungen unabhängig zu werden. Zudem gibt es die Überlegung, die Aufrüstung der europäischen Streitkräfte gemeinsam zu finanzieren.
Die EU hatte in der Pandemie den Wiederaufbaufonds „Subsequent Technology EU“ aufgelegt und dafür erstmals gemeinsame Anleihen ausgegeben. Die Auszahlung der insgesamt 750 Milliarden Euro an die Mitgliedstaaten hat im vergangenen Sommer begonnen. Das Geld soll vor allem für Investitionen in Klimaschutz und Digitalisierung verwendet werden. Die Regierungen mussten dafür detaillierte Ausgabenpläne erarbeiten.
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Die Debatte um einen neuen Fonds ist hochbrisant: Der Schritt würde die EU einer Fiskalunion näherbringen, die gerade in nordeuropäischen Ländern bisher auf Ablehnung gestoßen ist. Daher gilt es in Brüssel trotz der schweren ökonomischen und sicherheitspolitischen Folgen des Kriegs als unwahrscheinlich, dass sich die EU-Staaten zeitnah darauf verständigen, neue Gemeinschaftsanleihen auszugeben.
Sympathien in Süd- und Zurückhaltung in Nordeuropa
In der Debatte tritt die wirtschaftspolitische Trennlinie zwischen Süd- und Nordeuropa wieder hervor, die manche Beobachter schon für überwunden hielten. Während eher hochverschuldete Länder wie Italien große Sympathien für neue Gemeinschaftsanleihen hegen, herrscht nördlich der Alpen deutliche Zurückhaltung.
Beispiel Niederlande: Deren Finanzministerin Sigrid Kaag sagte im Handelsblatt-Interview: „Wichtig ist für uns, dass die Kommission zunächst die existierenden Instrumente einsetzt und das Geld genutzt wird, das bisher nicht abgerufen wurde.“
Auch in Berlin trifft die Idee für einen zweiten Hilfsfonds auf wenig Zustimmung. Die „EU-Schuldenaufnahme muss wie vereinbart eine einmalige Sache bleiben“, heißt es in deutschen Regierungskreisen. Allerdings hat die Ampelkoalition in der Schuldenfrage keine einheitliche Linie. Grüne und SPD stehen einer gemeinsamen europäischen Schuldenaufnahme deutlich offener gegenüber als die FDP.
Wahrscheinlicher als ein neuer Fonds ist derzeit die Verständigung auf eine Anpassung der nationalen Ausgabenpläne. Vor dem Hintergrund des Energieschocks könnten die vorhandenen EU-Hilfen umgeschichtet und stärker auf die Energiesouveränität ausgerichtet werden.
Die Bundesregierung zeigt sich dafür prinzipiell offen, warnt aber vor Aktionismus. „Hinsichtlich möglicher Umwidmung der Mittel sind wir abwartend“, heißt es in Berlin. „Die Zielsetzung mittelfristige ökonomische Erholung bleibt ja richtig; wenn nun Anpassungsbedarf an den Programmen besteht, sehen wir uns das natürlich an.“
Aus dem EU-Parlament kommt dagegen der Ruf nach einer gemeinsamen europäischen Investitionspolitik. „Wir müssen das Sign setzen, dass wir jetzt zusammenstehen“, sagt der Europaabgeordnete Damian Boeselager (Volt). „Die ökonomischen Folgen des Kriegs und der gemeinsam verhängten Sanktionen werden alle EU-Staaten hart treffen, aber einige noch härter als andere.“ Ohne einen Lastenausgleich werde die EU ihre Sanktionspolitik gegen Russland nicht durchhalten können.
Mehr: Kommentar: Die Debatte um eine Reform von Schuldenregeln ist nötig – aber nicht vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs