München, Düsseldorf Es herrschte Stille im Saal 134 des Landgerichts München I, als Richter Helmut Krenek am Donnerstag das Wort erhob: „Wenn dieses Geschäft nicht existiert hat und dann sinngemäß auch die Bilanzen nicht stimmen, dann ist der Jahresabschluss nichtig“.
Der Vorsitzende Richter Krenek zeigte sich in der Verhandlung schon früh dafür offen. Sollte nachgewiesen werden, dass es das in Frage stehende Vermögen von Wirecard nie gegeben hat, so Krenek, gehe es um Dimensionen, „bei denen an der Nichtigkeit nicht zu zweifeln“ sei.
Damit zeichnet sich ein Erfolg Jaffés vor Gericht ab. Und auch wenn es nicht direkt Gegenstand des Gerichtsverfahrens ist, wie der Richter noch einmal betonte, so könnte der Insolvenzverwalter damit die Grundlage schaffen, um von den Aktionären zu Unrecht ausgeschüttete Dividenden zurückzufordern. Jaffé hofft zudem auf Rückzahlungen des Finanzamts, das Steuern auf Grundlage nicht vorhandener Gewinne und zu hoher Umsätze berechnet hat.
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Auch EY gerät mit dem Kurs des Richters stärker unter Druck. Die Prüfgesellschaft hatte zehn Jahre lang die Wirecard-Bilanzen testiert – ohne Einschränkung. Werden die Jahresabschlüsse 2017 und 2018 für falsch erklärt, hätten sie nicht testiert werden dürfen.
Jaffé macht keinen Hehl daraus, dass er eine Schadensersatzklage gegen EY erwägt. Der heutige Prozesstag dürfte als Grundlage dafür dienen. Richter Krenek will im Mai eine Entscheidung verkünden.
Wirecard battle im Juni 2020 zusammengebrochen, nachdem der Dax-Konzern Scheinbuchungen in Milliardenhöhe zugeben musste. Kurz darauf meldete der Zahlungsdienstleister aus Aschheim Insolvenz an. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Betrug und Untreue, unter anderem gegen Wirecards früheren Vorstandschef Markus Braun.
Zentral für die Nichtigkeit der Jahresabschlüsse ist die Frage, ob der Zahlungsdienstleister Gelder auf Treuhandkonten hielt – und wenn ja, wie viel. Den Bilanzen des Konzerns zufolge verwaltete die Firma Citadelle aus Singapur Ende 2017 knapp 713 Millionen Euro, Ende 2018 sogar mehr als eine Milliarde Euro für das Unternehmen.
Jaffé ist überzeugt, dass es dieses Geld nie gab. Seine Anwälte von der Kanzlei Gleiss Lutz präsentierten nun im Rahmen des Verfahrens erstmals Kontoauszüge der Financial institution OCBC in Singapur, bei der die vermeintlichen Treuhandkonten geführt worden sein sollen. Jaffé hatte ihre Herausgabe vor Gericht erstritten, darf die Auszüge aber nur für das Verfahren in München verwenden.
„Die Kontoauszüge waren ja ganz interessant, haben nur leider keine Milliarden aufgewiesen“, sagt Luidger Röckrath von Gleiss Lutz in der Verhandlung am Donnerstag. Erlöse des vermeintlichen Drittpartnergeschäfts seien auf den Konten nie eingetroffen.
Bei einem der Konten, die auf den Namen des damaligen Treuhänders Citadelle geführt worden seien, deal with es sich offenbar um ein Spesenkonto, über das der Treuhändler etwa Tankrechnungen, Einkäufe beim Spielwarenhändler Toys’R’us und Besuche in einer Tanzbar in Singapur bezahlt habe.
Die Bar soll von Rajaratnam Shanmugaratnam betrieben worden sein, eben dem Mann, der auch das angebliche Treuhand-Vermögen von Wirecard auf den Citadelle-Konten verwaltete. Er ist in Singapur wegen mutmaßlicher Fälschung von Dokumenten angeklagt. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, „in betrügerischer Absicht“ ein nicht-existentes Vermögen vorgetäuscht zu haben. Seine Bar ist Google-Rezensionen zufolge inzwischen dauerhaft geschlossen.
Brauns Rechtsanwalt Bernd-Wilhelm Schmitz meldete in der Verhandlung Zweifel an Jaffés Darstellung an. Es gehe um die Frage, ob es das Geld gab – nicht darum, auf welcher Financial institution es lag. Hier gebe es noch Klärungsbedarf.
Jaffés Anwälte hielten dagegen, dass die Kontoauszüge die von EY testierten Bilanzen 2017 und 2018 widerlegen würden. Weil ein großer Teil der Umsätze und Gewinne offenbar nur auf dem Papier existierte, müsse das Gericht die Jahresabschlüsse annullieren – und die Beschlüsse zur Gewinnausschüttung auf den jeweiligen Hauptversammlungen gleich mit.
Wirecard hatte für das Geschäftsjahr 2017 rund 22,2 Millionen Euro und im darauffolgenden Jahr 24,7 Millionen Euro Dividenden ausgeschüttet. Jaffé dürfte vor allem auf Großaktionäre wie Ex-CEO Markus Braun abzielen, der sich über seine MB Beteiligungs GmbH acht Prozent der Aktien gesichert hatte. Doch auch Ausschüttungen an Kleinanleger wären damit obsolet. Jaffé zufolge gestaltet es sich jedoch schwer, alle Aktionäre ausfindig zu machen, die Dividenden kassierten.
Anleger haben im Insolvenzverfahren wegen ihrer immensen Kursverluste Forderungen in Höhe von mehr als 15 Milliarden Euro angemeldet. Demgegenüber steht weniger als eine Milliarde Euro, die Jaffé bislang eintreiben konnte. Der Insolvenzverwalter machte in der Vergangenheit wenig Hoffnung, dass am Ende des Verfahrens etwas für die Gläubiger übrig bleibt.
Jaffé scheint gewillt, nun auch EY in Anspruch zu nehmen. Er hat die Wirtschaftsprüfungsfirma Warth & Klein beauftragt, Schadensansprüche gegen EY zu prüfen. Sollten die Prüfer zu ähnlichen Ergebnissen kommen wie sein Kollege Martin Wambach, der den Wirtschaftsprüfern in seinem Bericht für den Wirecard-Untersuchungsausschuss im Bundestag ein verheerendes Zeugnis ausstellte, ist eine Klage des Insolvenzverwalters gegen EY wahrscheinlich.
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EY selbst spielt die Bedeutung des Verfahrens vor dem Landgericht München für mögliche Schadensersatzforderungen herunter. Die Firma selbst sei nicht Partei oder Beklagte des Rechtsstreits. „Die Feststellung der Nichtigkeit sagt nichts darüber aus, wer für die Mängel des Jahresabschlusses verantwortlich ist“, teilte ein EY-Sprecher mit. Ebenso wenig werde über eine etwaige Pflichtverletzung der mit der Prüfung des Jahresabschlusses befassten Abschlussprüfer entschieden.
EY kämpft an verschiedenen Fronten. Neben dem Insolvenzverwalter sind es vor allem Aktionäre, die der Firma ans Geld wollen. Das Münchner Landgericht sah bei früheren Entscheidungen keinen ursächlichen Zusammenhang zwischen den EY-Testaten und den Verlusten der Anleger, beziehungsweise keine Pflichtverletzung der Prüfer.
Das Oberlandesgericht (OLG) teilt diese Sicht jedoch nicht: Nach Einschätzung des Senats hätte eine frühere Verweigerung des Testats durch EY auch einen früheren Insolvenzantrag der Wirecard AG zur Folge gehabt.
Ausgehend davon spräche dann „wohl die allgemeine Lebenserfahrung dafür, dass die Anleger die streitgegenständlichen Aktienkäufe in Kenntnis dessen nicht getätigt hätten“, teilte das OLG vergangene Woche mit.
EY und Wirecard: OLG München lässt Anleger hoffen
Es sei „kein rechter Grund“ ersichtlich, warum EY für eine möglicherweise falsche und sittenwidrige Bestätigung der Wirecard-Bilanzen in den Jahren vor 2020 nicht gegenüber „allen späteren Aktienkäufern haften sollte“ – zumindest sofern nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge bei einer pflichtgemäßen Bilanzprüfung Wirecard früher pleite gegangen und es erst gar nicht mehr zu diesen Aktienkäufen gekommen wäre, so das OLG.
EY ist nicht unmittelbar an dem Verfahren beteiligt, in dem es um die Gültigkeit der Bilanzen geht. Das Unternehmen vertritt weiterhin den Standpunkt, nach bestem Wissen und Gewissen und gemäß der üblichen Requirements geprüft zu haben. Das Unternehmen sei selbst Opfer eines Betrugs geworden. Insbesondere hätten die Prüfer keine Möglichkeiten gehabt, die Existenz des Treuhandvermögens zu verifizieren.
Den Insolvenzverwalter wird EY damit nicht beeindrucken – und erst recht nicht von einer Klage abbringen. Jaffés oberstes Ziel ist es, möglichst viel Geld einzutreiben. Neben EY nimmt er auch die Organe Wirecards in den Blick. In erster Linie geht es dabei aber nicht um Ex-CEO Braun, seinen früheren Vorstandskollegen Jan Marsalek und andere Beschuldigte, die offenbar mit hoher krimineller Energie handelten. Denn in aller Regel zahlen die Versicherungen nicht bei vorsätzlichen Straftaten.
Stattdessen stehen Wirecard-Topmanager im Fokus, die vielleicht nicht kriminell gehandelt haben. Sie könnten angesichts der massiven Falschbuchungen aber ihre Pflichten verletzt haben. In diesem Fall zahlt die Versicherung. Im Versicherungstopf liegen 150 Millionen Euro, die will Jaffé sichern.
Mehr: Das Protokoll des Versagens: Der Geheimreport des Sonderprüfers Martin Wambach zur Arbeit von EY