Geschichte wiederholt sich nicht, doch manchmal reimt sie sich. Nach dem Wahlsieg 1998 sah sich die rot-grüne Bundesregierung mit der Kosovo-Krise konfrontiert. 14 Jahre später ist die Ampelregierung unter rot-grüner Führung erneut mit einer außenpolitischen Krise konfrontiert: einem drohenden Krieg in Osteuropa durch eine Invasion Russlands in der Ukraine.
Ganz so, wie Wladimir Putin eiskalt kalkuliert hat, hat die Krise Berlin kalt erwischt. Die Ampelkoalition muss sich noch finden. Außenpolitik spielte in den vergangenen Jahren keine große Rolle, Erfahrungswerte sind kaum vorhanden. Deutschland fällt es schwer, eine strategische Außenpolitik gegenüber autokratischen Großmächten zu formulieren. Und so wird der Moskau-Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz am Dienstag angesichts der akuten Eskalationswarnungen zu einer Bewährungsprobe.
Für Deutschland ist der Ukraine-Konflikt auch unangenehm, weil die Bundesrepublik traditionell mehr auf Konfliktvermeidung setzt als andere. Nun droht neben der Systemrivalität mit China ein Konflikt mit einer weiteren Großmacht. Der Politologe Ivan Krastev hat die Lage treffend beschrieben: Die Welt hat sich verändert, Deutschland hat es nicht.
Die USA sind das Zentrum der westlichen Antwort auf Putin
Wenn Scholz am Dienstag nach Moskau reist, liegt neben der Frage, wie er Einigkeit und Entschlossenheit der westlichen Verbündeten als Abschreckung glaubhaft machen kann, auch die Grundsatzfrage auf dem Tisch: Wie ernst wird Putin den Kanzler nehmen? Macron drang jedenfalls bei seinem Besuch wenig im Kreml durch.
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Für Putin ist die Nato immer noch die USA. Und zumindest hier liegt er nicht grundfalsch. Deutschland und Europa können sich deshalb glücklich schätzen, dass die Amerikaner unter Joe Biden ihren Unilateralismus hinter sich gelassen haben und ihre Rolle als Ordnungsmacht wieder einnehmen.
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Zumindest diese eine gute Nachricht gibt es: Seit dem 11. September 2001 hat es nicht mehr dieses Niveau an multilateraler Koordinierung durch die USA gegeben wie in diesen Tagen. Und mit dem Multilateralismus feiert zugleich die Nato, die Macron fataler- wie fälschlicherweise schon für „hirntot“ erklärt hatte, ein Comeback. Biden hat offenbar aus dem Afghanistan-Desaster gelernt.
Dafür muss man gar nicht den Vergleich mit Bidens Amtsvorgänger Donald Trump anstellen. Die Neuausrichtung der US-Außenpolitik begann schon unter Barack Obama, als dieser erklärte, der Blick der USA richte sich fortan stärker auf den Pazifik-Raum, und weniger über den Atlantik, und der Russland als „Regionalmacht“ bezeichnete.
Der Westen hat wieder erkannt, was er an der Nato hat
Vor diesem Hintergrund können auch die Differenzen über Nord Stream 2 zwischen den USA und Deutschland oder die Leaks aus US-Geheimdienstkreisen über einen bevorstehenden Angriff Russlands nicht darüber hinwegtäuschen: Die transatlantischen Bindungen sind wieder so eng wie lange nicht mehr. Dass das wiedererweckte US-Interesse an Europa von Dauer ist, nachdem der Konflikt hoffentlich friedlich beigelegt wurde, ist freilich unwahrscheinlich. Selbst in der Ukraine-Krise reist US-Außenminister Blinken durch den Pazifik-Raum und Biden stellt seine neue Strategie für den „Indopazifik“ vor, in deren Zentrum „Allianzen“ gegen Chinas „Aggressionen“ stehen.
Dennoch könnte die Nato gestärkt aus dem Konflikt hinausgehen. Weil der Westen wieder erkannt hat, was er an der Nato hat. Weil Europa erkannt hat, konkret mehr für die eigene Sicherheit tun zu müssen, statt abstrakt eine „europäische Souveränität“ zu beschwören. All das weiß auch Putin. Und das macht die Kriegsgefahr so groß. Aus einer friedlichen Beilegung des Konflikts magazine der Kreml bei Zusicherungen des Westens etwa über eine vorläufige Nicht-Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato etwa kurzfristig als Sieger hervorgehen. Mittelfristig aber kaum.
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