Der Europawahlkampf wird zur ersten Feuertaufe für CDU-Chef Merz. An diesem Sonntag ist er in Leipzig. Ein wichtiger Termin, weil es gleich um drei Wahlen geht. Doch das Publikum ist anders als gedacht.
Schon bevor Friedrich Merz ans Mikrofon tritt, beginnen vereinzelt Menschen zu buhen. „Du Scheiß Kriegstreiber“, brüllt ein Mann über die Metall-Absperrung, die ihn von dem CDU-Chef trennt. Ein paar Meter weiter hinten schreit eine Frau etwas ähnliches.
Aber: Merz scheint das völlig kalt zu lassen. Süffisant grinst er denen, die ihn da aus voller Kehle beschimpfen, entgegen. Ihnen wird er sich gleich schon noch widmen. Zumal der CDU-Vorsitzende mit so etwas gerechnet haben wird. Immerhin waren zwei Demonstrationen bereits im Vorfeld angemeldet. Dass unter der Laufkundschaft jetzt noch ein paar dazu kommen, ist eingepreist.
Der CDU-Chef beginnt mit einem politischen Rückblick: Am 9. Oktober 1989 habe es in der Leipziger Innenstadt Demonstrationen für Frieden und Freiheit gegeben. 70.000 Menschen. Bilder, die um die Welt gingen. Das alles im Schatten der SED. „Diese Menschen brauchten wirklich Mut“, sagt Merz. „Die, die da hinten rumschreien, die, da vorne rumschreien, die brauchen heute keinen Mut. Die Menschen damals, die haben wirklich Mut gehabt.“ Jetzt übertönt der Applaus die Buhrufe. Dabei macht Merz sich gerade erst warm.
Erste Feuertaufe für Merz
Es ist ein wichtiger Termin hier in Leipzig. Für die Partei. Aber auch für den CDU-Vorsitzenden. Denn während im Saarland, Nordrhein-Westfalen oder Niedersachsen die Europawahl im Zentrum steht, geht es in Thüringen, Brandenburg und Sachsen auch um die bevorstehenden Kommunal- und Landtagswahlen. Viele der Zuhörer im Europawahlkampf werden den CDU-Chef vermutlich nicht zwei Mal erleben, bevor sie all ihre Kreuze setzen.
In Sachsen wollen die Christdemokraten weiter den Ministerpräsidenten stellen. Bislang macht Michael Kretschmer den Job. Doch die kommende Wahl ist kein Selbstläufer. Die CDU liefert sich mit der AfD ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Kretschmer muss darüber hinaus sicherstellen, dass er nach der nächsten Wahl auch eine Mehrheit im Parlament bilden kann.
Hinzu kommt, dass an den Ergebnissen auch die Kanzlerkandidatentauglichkeit von Merz gemessen wird. Er kann und muss jetzt zeigen, dass er als Zugpferd funktioniert. Auch, wenn die Spitzenkandidaten andere sind, in diesem Fall Ursula von der Leyen. An diesem Sonntag steht vor allem einer im Fokus: Merz selbst.
„Sie sind eine verschwindend kleine Mehrheit in Deutschland“
Bei dem Termin wird einmal mehr klar: Merz liebt den Schlagabtausch. Man merkt das schon, wenn im Bundestag Regierungserklärung ist. Dann wirkt es oft so, als habe der Oppositionsführer richtig Freude daran: Den Gegner stellen, Schwachstellen aufzeigen, das liegt ihm.
Immer wieder geht er auf die Demonstranten ein. Wird dabei von ständigem Applaus und lauten Jubelrufen begleitet: „Ihr seid eine winzig kleine Minderheit in Deutschland“, ruft Merz ihnen entgegen. Applaus. „Wir lassen uns nicht von euch einschüchtern.“ Applaus. Die große Mehrheit werde Freiheit und Demokratie verteidigen. Lautes Gegröle. Der Nikolaikirchhof, auf dem die Veranstaltung stattfindet, hat jetzt in dem Moment was von einer Stadion-Fankurve. Merz ist der Capo.
Er saugt die Stimmung auf, fühlt sich bestärkt – und legt nach. Als der CDU-Vorsitzende über das Bürgergeld spricht, sagt er: „Ich vermute unter denen, die da hinten schreien, die hier vorne schreien, werden da wahrscheinlich einige dabei sein. Gegen den Staat, aber das Geld von diesem Staat nehmen Sie alle wahrscheinlich ganz gern, nech?“ Wieder erntet er großen Applaus.
Der Auftritt ist ein Vorgeschmack auf den weiteren Wahlkampf. In diesem Jahr – und womöglich auch im nächsten Jahr bei der Bundestagswahl. Immer wieder weicht Merz vom Skript ab, liest stattdessen das Publikum, macht Stimmung. Den Staatsmann lässt er bleiben. Falsche Zuhörerschaft. Das kommt an diesem Sonntag in Leipzig gut an. Die, die dort sitzen, feiern Merz. Aber reicht das?
CDU sucht: Jungwählerinnen- und wähler
Es ist das eine, den Demonstranten Parole zu bieten. Vielleicht muss man das. Die Frage ist nur: Macht man die Menge der Unzufriedenen dadurch kleiner? Bei der letzten Umfrage zur Europawahl hat die AfD trotz aller Skandale um ihren Spitzenkandidaten noch einmal zugelegt. Auch Merz wird wissen, dass das Problem deutlich komplexer ist.
Ein Blick durch die Menge offenbart noch ein weiteres Problem im Wahlkampf: der Altersschnitt liegt bei 50 plus. Und das nicht nur bei dieser Veranstaltung. Auch in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen war das so. Vor allem bei der Europawahl könnte es gefährlich werden, die Jungen nicht zu erreichen. In Deutschland darf ab 16 Jahren gewählt werden.
Am Ende hat Merz die Menschen an diesem Sonntag augenscheinlich überzeugt. Aber was ist mit dem Rest? Der erste Schritt müsste hier wohl sein: überhaupt mal die Aufmerksamkeit zu gewinnen.