Shehyni, Medyka Tausende warten noch, hier am ukrainischen Grenzübergang Shehyni. Sie warten, dass sie nach Polen dürfen. In Sicherheit vor dem Krieg des Wladimir Putin. Viele Paare und junge Menschen sind die letzten Kilometer zu Fuß gekommen, schleppen Koffer und Einkaufstüten mit, tragen ihre Kinder auf den Schultern. Einige Menschen weinen, wirken erschöpft. Viele sind bereits quick zwei Tage unterwegs, haben Hunderte Kilometer hinter sich gebracht. In der Nacht sinken die Temperaturen auf den Gefrierpunkt. Raketeneinschläge sind zu hören.
Bis zu 24 Stunden betragen die Wartezeiten an der Grenze zwischen der Ukraine und Polen. Männer im wehrfähigen Alter lassen die ukrainischen Grenzsoldaten seit der Generalmobilmachung durch den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski am Freitag gar nicht mehr auf die polnische Seite. Soldaten schreien und drohen mit dem Gewehr, damit Ruhe herrscht.
Wer es über die Grenzen der Ukraine gen Westen schafft, hat die größte Hürde überwunden, ist dem Krieg entkommen. Allein nach Polen kamen am Freitag 47.000 Menschen aus der Ukraine. 100.000 Menschen seit Kriegsausbruch.
Katerina Kosar steht mit ihrer Tochter Diana und ihrem Hündchen Miki in der Empfangshalle des Grenzbahnhofs Przemysl. Am Donnerstagmorgen um vier Uhr sei sie aus ihrer Heimatstadt Charkiw abgereist. „Mein Mann sagte, ich solle zur Sicherheit für ein paar Tage nach Lwiw, da ich hochschwanger bin“, erzählt sie. „Eineinhalb Stunden später fielen die Bomben.“
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Die 30-stündige Reise quer durch die Ukraine verlief ruhig, doch ihr Ehepartner, ein Polizist, blieb bis zuletzt in Sorge, da der Zug mitten durch das Kriegsgebiet fuhr. „Ich bin knapp rausgekommen, aber meine Familie, Freunde und Nachbarn sitzen in Bombenkellern fest.“
Die Menschen haben alles hinter sich gelassen
Kosar ist müde, traurig und geschockt wie alle. Doch sie habe Glück gehabt, auch, da eine Familie im Zug ihr spontan ihr Ticket abgab: Der Mann konnte plötzlich nicht mehr ausreisen seit Selenskis Generalmobilmachung. Entsprechend sind Frauen unter den Ankommenden stark in der Mehrheit. Sie erzählen, alle hätten sich im Zug gegenseitig geholfen, viele reisten ohne Ticket, der Schaffner drückte beide Augen zu. Es gibt momentan andere Prioritäten.
Die Menschen haben alles hinter sich gelassen. So wie Olga aus Kiew. Sie ist Podcasterin, ihr Companion ist bereits am Dienstag nach London zu seiner Familie geflogen. Am Donnerstag ist auch sie mit ihren zwei Kindern auf dem Weg nach Lwiw.
Sie hatte für den Notfall 10.000 Euro und den gleichen Betrag in der ukrainischen Währung bereitgelegt, zusammen mit all ihren Dokumenten. Die Stadt zu verlassen hatte sie eigentlich nicht geplant, es struggle lediglich ihr Plan B.
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Nicht alle Ukrainer wollen fliehen. Das zeigt das Beispiel von Katja und Michail, sie Ukrainerin, er Russe. Sie haben gemeinsam mit ihren drei Kindern gerade erst im Januar ihre neue Wohnung in Kiew bezogen – in einem Hochhaus in der Innenstadt, das aussieht wie große Tetrisblöcke. Es ist die teuerste Immobilie der Stadt. „Wir haben lange dafür gespart“, sagt Katja.
„Und bis vor drei Tagen haben wir auch gedacht, dass wir unser Leben hier verbringen.“ Doch mit Wladimir Putins Fernsehansprache hätte sich ihre Lebensplanung in Luft aufgelöst. „Der Krieg, der bislang so fern struggle, struggle plötzlich actual.“
Die Bankautomaten sind leer, das Benzin wird rationiert
Und dennoch sind gerade Hunderttausende auf der Flucht. Sie marschieren bepackt mit Decken, Kopfkissen und Taschen in Richtung EU. Viele erst einmal nach Polen. Einige jüngere Fußgänger erzählen aber auch, sie wollen weiter nach Spanien fahren – weit weg von dem Krieg.
Trotz allem bleiben die meisten Menschen auf ihrem Weg in den Frieden zivilisiert und gefasst. Es gibt kaum Chaos. Selbst bei einer circa 200 Meter langen Massenkarambolage außerhalb Kiews helfen sich Menschen noch gegenseitig, die Autos zu reparieren. Sie wollen ja alle weiterkommen.
Trotzdem sind bereits am Donnerstag die Bankautomaten leer, es gibt kein Geld mehr. Das Web ist nur sporadisch verfügbar, die Verbindung brüchig. An den Tankstellen wird Benzin auf rund 20 Liter rationiert. Nur noch wenige Lebensmittel gibt es zu kaufen.
Polen erlebt seinen Second der Willkommenskultur
Auf ihrer Flucht in den Westen werden die Flüchtlinge von einer Welle der Solidarität empfangen. Die Slowakei, Rumänien und die Moldau haben ihre Grenzen geöffnet. Polen erlebt gerade seinen eigenen Second der Willkommenskultur.
Die Unterstützung für die Nachbarn ist überwältigend – politisch wie gesellschaftlich: Die nationalkonservative Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS), die noch im Spätherbst an der Grenze zu Belarus gegenüber außereuropäischen Geflüchteten tausendfach auf Pushbacks setzte, unternimmt nun alles, um den Ansturm zu bewältigen. Dies seien „richtige Flüchtlinge“, sagte Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, andere Regierungsmitglieder sprachen von Brüdern und Schwestern, die nun Hilfe brauchten.
Das Innenministerium hat innerhalb kürzester Zeit neun Empfangszentren entlang der Grenze eingerichtet. Das Zentrum der ukrainischen Immigration ist Przemysl: Im Gespräch erklärt Bürgermeister Wojciech Bakun am Freitag, dass allein am Bahnhof 4000 Menschen ankamen, 8000 weitere am nahen Grenzübergang Medyka.
In den Gängen neben den Gleisen verteilt das Militär Krapfen, Suppe, Kaffee und Decken. Der hintere Teil des Gebäudes ist zu einem Pritschenlager umfunktioniert worden. Die gestrenge Dame, die normalerweise drei Zloty für die Toilettenbenutzung fordert, winkt die Leute freundlich herein.
Bürgermeister Bakun, auch er ein PiS-Politiker, koordiniert die Hilfsaktion vor Ort. „Wir sind die erste Empfangsstation“, erklärt er sein Rollenverständnis. „Die Leute, die bisher ankamen, sind zwar müde und desorientiert, aber meist gesund.“ Das Regionalspital sei ausgerüstet, um auch Verwundete zu behandeln, versichert er. Es stünden 1000 Schlafplätze zur Verfügung. „Allerdings reisen quick alle gleich weiter, wir statten sie lediglich mit hotter Kleidung, Tickets und Proviant aus.“
Tausende Freiwillige
Den Behörden gelingt es bisher erstaunlich intestine, auch die Tausenden von Freiwilligen einzubinden, die sich praktisch über Nacht an der Grenze eingefunden haben. Am Grenzübergang Medyka bildeten sich nicht nur auf ukrainischer, sondern auch auf polnischer Seite Staus, da so viele Menschen mit ihren Privatautos gekommen sind, um Flüchtlinge kostenlos in die größeren Städte mitzunehmen. Um den stetig anwachsenden Strom zu kanalisieren, wollen die Behörden die Menschen nun mit größeren Bussen zu einem Parkplatz fahren, wo die Freiwilligen mit ihren Autos warten. Dennoch ist die Lage am Freitagabend bereits erheblich hektischer als noch am Nachmittag.
Katerina Kosar und ihre Familie sind da bereits auf dem Weg nach Posen (Poznan), wo sie ihr Onkel abholen und mit nach Dänemark nehmen wird. Sie kann wie die meisten Flüchtlinge auf die Unterstützung der großen ukrainischen Diaspora in den EU-Ländern zählen. Allein in Polen wird diese auf 1,5 Millionen Menschen geschätzt. Die meisten kamen seit 2014, als Russland die Ukraine mit der Annexion der Krim angegriffen hatte.
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