Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Kai Gehring wurde mit seinem Parteikollegen Rolf Fliß in Essen von einem Unbekannten attackiert. Im Interview spricht Gehring über die Attacke und seinen Umgang mit zunehmendem Hass.
Nach dem Angriff auf den sächsischen SPD-Europapolitiker Matthias Ecke in Dresden sowie der Attacke auf den Bundestagsabgeordneten Kai Gehring und den dritten Bürgermeister der Stadt Essen, Rolf Fliß (beide Grüne), kocht die Debatte um mehr Schutz für Mandatsträger und andere politisch engagierte Menschen hoch. Im Interview mit t-online spricht Grünen-Politiker Kai Gehring über das, was er mit seinem Parteikollegen in Essen erlebte, über die Zündeleien der AfD und über längst überschrittene Grenzen der Gewaltbereiten.
t-online: Herr Gehring, gehen Sie derzeit angstfrei auf die Straße?
Kai Gehring: Ja, ich lasse mich nicht einschüchtern, will ansprechbar und bürgernah bleiben. Seit Samstag habe ich all meine Termine wahrgenommen, am Sonntag war ich am Grünen-Infostand auf einem großen Bürgerfest in meinem Wahlkreis und habe mich mit vielen Bürgerinnen und Bürgern ausgetauscht. Präsenz zeigen, jetzt erst recht. Wichtig ist, dass die Innenministerkonferenz jetzt substanzielle und wirksame Maßnahmen auf den Weg bringt, um die vielen Ehrenamtlichen und Wahlkämpfenden besser zu schützen und Sicherheit zu gewährleisten. Plakate kleben, Infostände und Veranstaltungen gehören zum fairen Wettbewerb im Wahlkampf und sind selbstverständlicher Teil unserer Demokratie. Dabei darf sich niemand bedroht fühlen. Der öffentliche Raum muss Freiheit und Sicherheit gewähren.
Erleben wir aktuell eine neue Dimension aufkeimender Gewalt gegen demokratische Politiker in Deutschland?
Wer jetzt noch Weckrufe fordert, hat jahrelang geschlafen. Der Mord an Walter Lübcke ist fast fünf Jahre her, der Messerangriff auf Henriette Reker neun. Aus Worten sind längst Taten geworden. Wir erleben seit Langem eine zunehmende Verrohung der Gesellschaft, eine Enthemmung und Radikalisierung gesellschaftlicher Ränder. Angriffe auf Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen oder für uns als Gesellschaft ihren Dienst tun, wie Politiker, Journalisten, Rettungskräfte und Ehrenamtliche, nehmen zu. Das, was in den vergangenen Tagen an Gewalt stattfand, muss alle umtreiben. Da ist etwas gekippt, was wir wieder ins Lot bringen müssen. Gewalt ist kein Mittel demokratischer Auseinandersetzung, egal aus welchem Spektrum. Streit muss zivil bleiben und das staatliche Gewaltmonopol verteidigt werden.
Womit hängt die Aggression, deren Ausmaße Sie am Donnerstag in Essen erleben mussten, aus Ihrer Sicht zusammen?
Rolf Fliß und ich waren auf dem Weg nach Hause, in unserem Wohnquartier. Vor einem Restaurant wurden wir von Männern angesprochen, die uns als Grünen-Politiker erkannt hatten. Die Stimmung war erst freundlich, es wurde gar ein Gruppenfoto gewünscht. Die Situation kippte in Sekunden völlig unerwartet: Wir wurden beleidigt, Rolf Fliß geschlagen. Über den Grund für die Aggression kann ich nur spekulieren. Es gab keinen Streit, allein unsere Parteizugehörigkeit schien Trigger und Auslöser zu sein. Die Solidaritätswelle, die wir seitdem erleben, motiviert und zeigt: Jetzt reicht’s, die übergroße Mehrheit will raus aus Zuspitzung und Eskalation und zurück zu respektvollem Umgang. Eltern müssen erziehen, Bildungseinrichtungen Demokratie vermitteln, Medienkompetenz muss wachsen. Die Verrohung in Teilen der Gesellschaft geht alle an.
Welchen Anteil hat Ihrer Auffassung nach die AfD an der aktuell zutage kommenden Demokratiefeindlichkeit?
Zur Attacke auf uns in Essen ermittelt der Staatsschutz weiter in alle Richtungen. In Dresden ist mindestens einer aus der brutalen Schlägertruppe, die Matthias Ecke schwer verletzten, Rechtsextremist. Führende AfD-Funktionäre riefen aus, demokratische Politiker zu jagen, heutzutage passiert genau das. Mit ihrem Rechtsextremismus trägt die AfD dazu bei, dass sich politische Ränder radikalisieren. Grenzen des Sagbaren wurden systematisch überschritten. Diese Enthemmung macht sich auch auf unseren Straßen bemerkbar. Die AfD diffamiert Minderheiten, andere demokratische Parteien und Institutionen, sie will „aufräumen“ und „ausmisten“, nutzt teils NSDAP-Parolen. Das schafft einen Nährboden für Gewalt, manche scheinen sich dadurch legitimiert zu fühlen.
Sie vertreten die Grünen in Essen im Bundestag und sind im Ruhrgebiet geboren. Wie bewerten Sie die Situation im Vergleich zu anderen Regionen?