Er ist so etwas wie der Quer- und Vordenker der Finanzwelt. Ray Dalio, Gründer von Bridgewater, dem größten Hedgefonds der Welt, fordert seit Langem eine Reform des Kapitalismus, prangert die soziale Ungleichheit an und ist freiwillig bereit, auf sein Milliardenvermögen höhere Steuern zu zahlen. Alles keine Selbstverständlichkeiten für einen Mann, der seinen Reichtum einem System verdankt, das seiner Meinung nach so nicht überlebensfähig ist.
Warum das so ist und was in der Welt gerade alles schiefläuft, hat der 72-Jährige jetzt in einem Buch unter dem anspruchsvollen Titel „Ideas for Coping with the Altering World Order. Why Nations succeed and fail“ aufgeschrieben.
Ambitioniert ist das Werk schon deshalb, weil er mit dem Wort „Ideas“ den Anspruch erhebt, die historischen Gesetzmäßigkeiten für das ewige Pendeln der Nationen zwischen Aufstieg und Niedergang aufzuzeigen. An dieser Herausforderung sind schon viele Gelehrte gescheitert, die über eine breitere Ausbildung verfügten als der Absolvent der Harvard Enterprise College.
Dalio ficht das nicht an. Es ist bereits sein drittes Buch, das das Wort „Prinzipien“ im Titel trägt und wie eine geopolitische Funding-Bibel daherkommt. Bridgewater sieht sich selbst als globale Makrofirma, was so viel bedeutet, dass Dalio und sein Group das große Bild vor Augen haben und darauf spezialisiert sind, früher als andere zu sehen, wenn sich die Ordnung der Welt verändert.
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Genau das ist seiner Meinung nach jetzt der Fall. Wobei für ihn das Kapital, sei es in Type von Vermögen oder Schulden, der wichtigste Motor für die Veränderungen ist.
Ray Dalio: Ideas for Coping with the Altering World Order.
Simon + Schuster UK
London 2021
576 Seiten
25,10 Euro
Die deutsche Ausgabe erscheint im Februar im Finanzbuch Verlag.
Im Grunde ist sein neues Buch ein Anlageratgeber, wie man in einer Welt von Pandemien, Klimakatastrophen und geopolitischen Krisen sein Vermögen schützen und mehren kann. Es gibt einen guten Einblick, wie Finanzprofis auf die vielen Weltkrisen schauen und versuchen, ihren Wissensvorsprung in Geld umzumünzen.
Wer allerdings neue Einsichten darin erwartet, wie die Welt funktioniert und warum einige Nationen aufsteigen und andere an Bedeutung verlieren, wird enttäuscht. Mit dem Werk von Daron Acemoglu und James Robinson „Warum Nationen scheitern“ wäre der politisch interessierte Anleger deutlich besser bedient. Auch Paul Kennedys Klassiker „Aufstieg und Fall der großen Mächte“ von 1987 gibt mehr Denkanstöße.
Dalios Analyse ist in Politik und Wirtschaft längst Allgemeingut. Seine für den schnellen Leser (time is cash) fett hervorgehobenen Einsichten kommen allzu oft als Plattitüden daher. Etwa wenn er feststellt: „Wenn das Wohlstands- und Wertgefälle groß ist und es einen wirtschaftlichen Abschwung gibt, ist es wahrscheinlich, dass es eine Menge Konflikte über die Aufteilung des Kuchens geben wird.“ An der Wall Avenue würde man das vermutlich einen „no-brainer“ nennen.
Im Zyklus der Geschichte gefangen
Der Finanzmanager sieht die Geschichte der Menschheit in einem ewigen Zyklus zwischen Aufstieg und Verfall, Krieg und Frieden sowie Wohlstand und Melancholy hin und her pendeln, wobei die Aufsteiger und Absteiger unter den Nationen oft wechseln, einige, wie insbesondere China, aber für ihn zum ewigen Favoritenkreis gehören. Diese Zyklen seien „wie die Gezeiten, die kommen und gehen“.
Er habe entdeckt, so Dalio weiter, dass große Imperien typischerweise ungefähr 250 Jahre andauerten. Demnach müssten die USA als dominierende Weltmacht bereits auf dem absteigenden Ast ein.
Der in New York geborene Autor sieht drei große Kräfte am Werk, die die alte Weltordnung gerade aus den Angeln heben und das Pendel der Geschichte erneut in Bewegung setzen.
Als Erstes ist es die Kombination von extrem niedrigen Zinsen an den Finanzmärkten und hoher Verschuldung, die nach seiner Meinung enorme Risiken für viele Länder birgt und zugleich die Handlungsfähigkeit der großen Notenbanken erheblich einschränkt. „Noch nie zu unseren Lebzeiten waren die Zinsen so niedrig.“ Für Schulden von mehr als 16 Billionen Greenback würden in diesem Jahr sogar unfavourable Zinsen gezahlt. Dies ist der stärkste Teil des Buches.
Auch wenn man Dalio nicht in allen Schlussfolgerungen zustimmt, legt er doch den Finger in die offenen Wunden der Weltwirtschaft. Interessant und richtig ist auch sein Hinweis, dass in der Geschichte jene Nationen, die über die jeweilige Reservewährung der Welt verfügten, den vielleicht wichtigsten Machthebel der Finanzwelt in ihren Händen halten. Noch sei dies der US-Greenback, „aber ich frage mich, wann und warum der Niedergang des {Dollars} als führender Reservewährung beginnen und was ihn ersetzen wird“.
Innere Widersprüche lähmen die USA
Der zweite große Veränderungsmotor sind für Dalio die inneren politischen Widersprüche, insbesondere in den USA. Der Hedgefonds-Supervisor vergleicht die politische Spaltung in Amerika mit den 1930er-Jahren, als es eine ähnliche Polarisierung mit einem straken Populismus gegeben habe.
Zu den Spannungen trägt seiner Meinung nach auch eine wachsende soziale Ungleichheit bei, die sich bei einem erneuten Wirtschaftsabschwung noch verstärken könnte, da weder die Geld- noch die Fiskalpolitik die Mittel hätten, um ausreichend gegenzusteuern.
Die dritte Kraft, die an der alten Weltordnung rüttelt, sieht der Autor im Aufstieg Chinas und in der wachsenden Rivalität zwischen Peking und Washington. Dalio prophezeit einen Wachwechsel an der Weltspitze. China werde in wichtigen Belangen stärker als Amerika werden, sagt er voraus. Mindestens werden beide Länder künftig auf Augenhöhe miteinander konkurrieren.
Konflikte werde es vor allem in den Bereichen Technologie, Handel, Kapital und im politischen Systemwettbewerb geben. An all diesen Fronten reiben sich die beiden Großmächte bereits. Und glaubt man den düsteren Voraussagen des Finanzmanagers, werden sich die Streitigkeiten zwischen den USA und China in den kommenden Jahren weiter verschärfen.
Den Niedergang der USA macht er an zu hohen Schulden, niedriger Produktivität, politischer Zerrissenheit und militärischer Überforderung fest. China erscheine dagegen wirtschaftlich stark sowie innerlich und äußerlich gefestigt. Es sei deshalb nur noch eine Frage der Zeit, bis die neue die alte Supermacht überhole.
Dalio kennt das Reich der Mitte intestine und müsste es eigentlich besser wissen: Finanziell ist China spätestens nach der Krise des Immobilienimperiums Evergrande angeschlagen. Politisch ist es nach wie vor eine offene Frage, ob Pekings diabolischer Pakt „Wohlstand gegen Unfreiheit“ eine handfeste Wirtschaftskrise überstehen wird, die nach Dalios Zeitrechnung in China fällig ist.
Die meisten geopolitischen Entwicklungen, die Dalio beschreibt, werden den aufmerksamen Beobachter der Weltlage kaum überraschen. Dalios Welterklärung weicht kaum vom geistigen Mainstream anderer Propheten ab. Seine Kunden und Followers werden das Buch deshalb vor allem danach durchsuchen, welche finanziellen Schlüsse der Finanzmagier aus seiner Krisenerzählung ableitet und was er ihnen für das eigene Portfolio rät.
Auch hier müssen sich die Leser auf eine Enttäuschung gefasst machen. Die meisten Menschen „verpassen typischerweise die großen Momente der Evolution, die im Leben auf sie zukommen, weil sie nur winzige Teile von dem erleben, was passiert“. Er kenne keine Investoren und keine hochrangigen Wirtschaftspolitiker, die hervorragend verstünden, was in der Vergangenheit passiert sei und warum, schreibt Dalio. Mit anderen Worten: Sie alle sähen nicht das „massive image“ und könnten deshalb auch nicht die Wendepunkte der ewigen Zyklen der Geschichte erkennen.
Nicht alle „Ameisen“ sind gleich
„Wir sind wie Ameisen“, schreibt der Autor, „die in ihrer kurzen Lebensspanne mit dem Tragen von Krümeln beschäftigt sind, anstatt eine umfassendere Perspektive auf die Muster und Zyklen des großen Ganzen zu haben.“
Das dürfte viele Leser ratlos und frustriert zurücklassen. Dem einfachen Investor bleibt in Dalios Logik nur, sein Geld Bridgewater anzuvertrauen und den Weisheiten seines Gründers zu folgen. Möglich ist es aber auch, sich selbst mit Geschichte zu befassen und seine eigenen Schlüsse zu ziehen.
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