Dass Daniela Klette in Kreuzberg gefasst wurde, warf Fragen auf. Warum versteckt sich ein früheres RAF-Mitglied gerade im linken Biotop? Und warum finden sich so viele Fotos von ihr im Internet?
Ausgerechnet Kreuzberg, wohl der bekannteste Stadtteil einer deutschen Großstadt im Zusammenhang mit linker Szene und Linksextremismus. Hier steht das Haus, in dem die gesuchte frühere RAF-Terroristin Daniela Klette viele Jahre wohnte und am Montagabend von der Polizei gefasst wurde.
Es ist ein unauffälliges dunkles Mietshaus aus der Nachkriegszeit in der abseits liegenden Sebastianstraße, keiner der in der Szene so beliebten Altbauten. Aber trotzdem nah an den legendären Orten des linksalternativen Bezirks: Oranienstraße, Kottbusser Tor, Mariannenplatz – in Büchern von Sven Regener oder Liedern von Ton Steine Scherben vielfach beschrieben. Am Dienstag und Mittwoch untersuchte die Polizei die Wohnung, immer wieder trugen vermummte Polizisten in Zivil, zum Teil mit BKA-Jacken, große Kartons hinein.
Kreuzbergs Rolle als Zufluchtsort
Über Jahrzehnte stand Kreuzberg für Kneipenszene, besetzte Häuser, Straßenschlachten am 1. Mai und den ersten direkt gewählten Grünen-Bundestagsabgeordneten. Sympathien und Unterstützung für alles, was links bis linksradikal ist, gehört sozusagen zur DNA der vergangenen Jahrzehnte. Dass Klette ausgerechnet in diesem Kiez so lange unerkannt unter falschem Namen „Claudia I.“ und mit einem italienischen Pass leben, arbeiten und in deutsch-brasilianischen Tanzgruppen aktiv sein konnte, mutet wie ein Klischee an.
Tatsächlich reagierte schon kurz nach der Meldung über Klettes Festnahme die Berliner Gewerkschaft der Polizei (GdP): „Dass sich die Gesuchte in Kreuzberg aufhielt, ist ein weiterer Beleg dafür, dass Berlin nach wie vor eine Hochburg für eine gut vernetzte bundesweit und global agierende linksextreme Szene ist.“ Der „Tagesspiegel“ zitierte einen Nachbarn, der seine Sympathie nicht verbirgt: „Da habe ich jahrelang neben der Genossin gewohnt, das gibt“s ja nicht“. Seine Abschiedsparole lautet: „Rotfront“.
Sympathiebekundungen aus der linken Szene
Klettes sichtbare Verknüpfungen auf ihrem Facebook-Profil führen zu bekannten linken Gruppen und Initiativen für Einwanderer: Rosa-Luxemburg-Stiftung, Bündnis gegen Rassismus, Reach Out, Integration aktiv, Werkstatt der Kulturen. Sympathiebekundungen kommen nach ihrem Auffliegen auch aus der Szene. Das Bündnis „Revolutionärer 1. Mai“ teilt bei X (früher Twitter) einen Post mit einem weinenden Smiley: „Damn it. Heute wurde in Berlin eine Genossin nach 30 Jahren Untergrund festgenommen.“ An einer Straßenecke in Kreuzberg hängt am Mittwoch ein Transparent: „Viel Kraft an Daniela Klette“. Auch das linke Hamburger Zentrum Rote Flora grüßt mit einem großen Banner.
Großen Raum nimmt auf Klettes mutmaßlichen Profil die afrobrasilianische Kultur- und Tanzszene ein. Ankündigungen zahlreicher Festivals und Workshops von 2013 bis 2019 sind zu sehen, ebenso vier Urlaubsfotos, nach den Aufschriften auf den T-Shirts offenbar von einem Tanzfest in Brasilien. Zeitungen spürten inzwischen weitere mutmaßliche Fotos von Klette in Berlin auf. Ein Bild zeigt 2019 eine weißhaarige Frau in einer gut gelaunten Capoeira-Gruppe (Kampf- und Tanzsportart). Die „Welt“ fand ein Bild, auf dem eine Frau einer Tanzgruppe beim Karneval der Kulturen 2011 in Kreuzberg aussieht wie Klette.
Zugleich soll sie bis 2016 laut den Vorwürfen mit zwei früheren RAF-Komplizen Raubüberfälle auf große Geschäfte in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen zur Geldbeschaffung verübt haben.
Ob Klette nun wegen einer möglichen linksradikalen Unterstützerszene in Kreuzberg lebte oder weil ihr der Alternativkiez mit Kneipen, Flüchtlingsinitiativen, brasilianischen Tanzgruppen und Straßenkarneval mehr Heimat bot als eine anonyme Hochhaussiedlung am Stadtrand – darüber lässt sich bislang nur spekulieren.
Beschreibungen von Klettes Alltag unter falscher Identität
Nachbarn schildern „Claudia“ als freundliche, grauhaarige Frau Mitte 60 mit einem langen Zopf. Sie soll Schülern privaten Nachhilfeunterricht in Mathematik gegeben und ihm zu Weihnachten Kekse geschenkt haben, erzählt einer. Eine Jugendliche berichtet, sie hätten sich immer freundlich gegrüßt, nur der große Hund der Nachbarin habe ihr Angst eingejagt. Mehr Kontakt habe es nicht gegeben. Vielleicht kam Klette vor 20 Jahren zufällig an diese Wohnung: unauffällig und anonym genug für einen Rückzug – und zugleich günstig gelegen mit Anschluss an ihre Welt. Das Leben mit falscher Identität und den Zielfahndern des Bundeskriminalamtes hinter sich, dürfte an allen Orten gleichermaßen Stress bedeuten.
Der Podcast „Legion“ der Sender NDR und RBB fand bereits im Dezember 2023 bei der Suche nach Daniela Klette eine Frau in Tanzgruppen in Berlin. Die Journalisten gingen einem Hinweis in Köln nach. Ein junger Mann berichtete, eine Frau aus der linken Internet-Aktivistengruppe „Anonymous“ habe 2017 bei einer Feier ihre Zugehörigkeit zur RAF gestanden. Ein Spezialist durchsucht daraufhin mit Hilfe spezieller Programme und alter Fotos von Klette das Internet und stößt auf die Tanzgruppen in Berlin. Die Podcaster befragen den Capoeiraverein, aber die Frau wurde zuletzt 2019 gesehen.
Die Rolle moderner Technologien bei der Fahndung
Es bleiben allerdings die Foto-Hinweise nach Berlin. Die Podcaster vermuten, damals sei Klette beim Posten von Fotos vielleicht nicht klar gewesen, welche Internet-Suchmöglichkeiten sich mit Hilfe Künstlicher Intelligenz auftun würden. Auf die Bilder könnten auch BKA und LKA gestoßen sein – entweder über eigene Recherchen oder den Podcast. Ob sie letztlich zu Klettes Entdeckung führten, ist bislang nicht bekannt. Die Sendung Aktenzeichen XY von Mitte Februar war es nicht, so die Polizei. Zu der Zeit habe man Klette bereits seit vielen Wochen observiert.