Wer am Himmel einen Regenbogen erblickt, kann nicht umhin, einen Second lang verzaubert zu sein. Berührt von dem Schauspiel, das die Natur einem selten und meist auch nur für kurze Zeit darbietet. Sonne und Regen gleichzeitig – und dort, wo sie sich treffen, ein Streifen aus allen Farben, die das menschliche Auge wahrnehmen kann.
Im Sommer 2021 haben wir in Deutschland viele Regenbogen gesehen. Dabei hatten wir es – zumindest in dieser Hinsicht – nicht mit meteorologisch außergewöhnlichen Monaten zu tun, sondern mit einem Zeichen. Mit einem Zeichen, das von Menschen für Menschen gemacht und für alle sichtbar an Fußballstadien, Rathäusern, städtischen Gebäuden, und ja, auch in Werbebannern gezeigt wurde.
Die Magie, um die es hier geht, ist die der bedingungslosen Liebe. Aber ein paar Schritte zurück.
Wir erinnern uns an die Fußballeuropameisterschaft im Sommer 2021. Bei der paneuropäischen Meisterschaft mit Spielen in Stadien von Amsterdam bis Sankt Petersburg, von Sevilla bis Baku, traf in der Münchener Allianz Area die deutsche Nationalmannschaft auf Ungarn. Ein Spiel, mit dem plötzlich Themen Einzug in das Spektakel Fußball hielten, die man sonst hier nicht unbedingt verortet hätte: die (anderswo) viel beschworenen europäischen Werte.
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Eine Woche vor besagtem Fußball-Länderspiel hatte das Parlament von EU-Mitgliedstaat Ungarn eine Gesetzesänderung verabschiedet, die den Zugang zu Informationen über Homo-, Bi-, Trans- und Intersexualität für Kinder und Jugendliche verbietet.
Offiziell unter der Überschrift „Kinderschutz“ propagiert, läuft das Gesetz darauf hinaus, Lebensmodelle, die von klassischen Mann-Frau-Rollen und heteronormativen Identitäten abweichen, aus der öffentlichen Wahrnehmung zu verbannen. Dabei ist die Aggression gegen LGBTQI hier zweifach angelegt: in der Verbannung dieser Lebensmodelle aus der öffentlichen Wahrnehmung sowie in der Unterstellung, dass homo-,bi- und intersexuelle, trans und queere Menschen eine Gefahr für die Jugend darstellen würden.
Die Stadt München wollte dem etwas entgegensetzen. Solidarisch mit der LGBTQI-Neighborhood und als Zeichen für Toleranz und Inklusion sollte am Tag des Spiels Deutschland gegen Ungarn die Allianz Area in den Regenbogenfarben leuchten. Doch die Uefa erlaubte dies nicht, weil dies gegen das politische Neutralitätsgebot verstieße. Ein Verbot, dass die Solidarität nicht aufhielt.
Über die gesellschaftliche Verantwortung
Während in München am 23. Juni das Stadion nur in den Euro-Farben leuchtete, schillerten der Frankfurter Deutsche Bank Park, die WWK Area in Augsburg, das Rhein-Energie-Stadion in Köln, die Merkur Spiel Area in Düsseldorf, das Volkswagen Stadion in Wolfsburg sowie das Berliner Olympiastadion und das Stadion An der Alten Försterei in Berlin an diesem Abend in Regenbogenfarben.
Und natürlich gab es auch im und um das Münchener Stadion zahlreiche farbenfrohe, fröhliche Bekundungen von Offenheit und Toleranz.
Dies ist additionally eine Laudatio auf die Vereinsvorstände, Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer und Kommunikatorinnen und Kommunikatoren der Fußballklubs und auf Sponsoren, die das Argument der politischen Neutralität nicht gelten ließen.
Die sich, uns, und auch das EU-Mitglied Ungarn stattdessen daran erinnerten, dass in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union unter anderem festgeschrieben ist: Artikel 1, die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.
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Artikel 21, Diskriminierungen insbesondere wegen des Geschlechts, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Faith oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung sind verboten.
Es ist auch eine Laudatio auf Leon Goretzka, der nach seinem Treffer zum zwei zu zwei im Spiel Deutschland gegen Ungarn mit seinen Händen ein Herz formte und die ungarischen Followers mit seiner Sympathie bedachte.
Und es ist eine Laudatio auf all die, die den Impuls aufgriffen, die Rathäuser, Unternehmenszentralen und Wahrzeichen bunt erstrahlen zu lassen und sich öffentlich zu Offenheit, Toleranz, Inklusion und zu Gewaltfreiheit bekannten. Die das Leben feierten in all seinen Schattierungen.
Zugegeben: Im Vergleich zu dem weltweiten Engagement der LGBTQI-Aktivistinnen und Aktivisten, die regelmäßig für ihren Einsatz für ein freiheitlich-selbstbestimmtes Leben physisch und psychisch angegriffen werden oder gar staatliche Repressalien erleben, magazine die Beleuchtung von Gebäuden in Regenbogenfarben geringfügig wirken. Und viele fragten schon im Sommer kritisch, ob diese Bekenntnisse von Individuen, Unternehmen, Sportvereinen und -vereinigungen wirklich authentisch und damit auch glaubwürdig seien.
Jedoch, Demokratie und europäische Werte beweisen sich im Großen wie im Kleinen. Fußball erreicht Millionen Menschen weltweit, um so relevanter ist es, wenn Entscheidungsträgerinnen und -träger die Sichtbarkeit, die ihre Place mitbringt, nutzen und gesellschaftliche Verantwortung übernehmen.
Demokratie neu beleben
Ich gehe davon aus, dass die Managerinnen und Supervisor, Funktionärinnen und Funktionäre, Kommunikatorinnen und Kommunikatoren im Fußball sich der Aufforderung, doch erst mal vor der eigenen Tür zu kehren, durchaus bewusst gewesen sein müssen.
In Deutschland gibt es bis dato keinen Profifußballer, der während seiner aktiven Zeit bekannt hat, homosexuell zu sein. Ein regenbogenfarbenes Stadion ist damit nicht nur ein Zeichen in Richtung Ungarn. Es ist auch ein Zeichen an die eigenen Groups, Followers, Sponsoren und an die Medien, Diversität im Sport zu wollen.
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Es ist ein Zeichen, dass man sich an dem Maßstab wird messen lassen. Es ist eine Aufforderung, diesen Maßstab auch anzulegen. Und zwar nicht nur im Sport, sondern auch in der Politik, im Bildungswesen, in den Medien, in der Wirtschaft. So hat dieses Zeichen hoffentlich vielerorts einer Entwicklung hin zu tatsächlich gelebter Vielfalt Dynamik verliehen.
Nicht zuletzt hat die neu gewählte Ampelregierung im Koalitionsvertrag die Abschaffung des Transsexuellengesetzes festgehalten. Und die Europäische Kommission hat wegen der oben genannten Gesetzesänderung gegen Ungarn zwei Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen, in dem sich Regionen und Kommunen zu „LGBT-freien Zonen“ erklärt haben, läuft ebenfalls.
Die europäischen Werte: Sie sind greifbar, sie lassen sich definieren, und wir dürfen uns immer wieder daran wagen, sie auch durchzusetzen. Das magazine oft schwierig sein und lange dauern. Aber ein Blick in andere Regionen erinnert uns daran, wie wichtig es ist. Bestimmten Bevölkerungsgruppen Rechte zu entziehen – mögen es Frauen, Homosexuelle oder ethnische oder religiöse Minderheiten sein – das gehört zum Werkzeugkasten von Autokraten.
In Deutschland haben wir die Freiheit und auch die Möglichkeiten, unsere Demokratie stets neu zu beleben. Miteinander zu gestalten und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu unterstützen. Wir sind aufgefordert, es zu tun. Und wie könnte eine Aufforderung schöner überbracht werden als getaucht in die Farben des Regenbogens.