Genf Ein Ende des Ukrainekriegs ist nach Einschätzung des ehemaligen OSZE-Generalsekretärs Thomas Greminger aktuell nicht in Sicht. „Putin hat seine militärischen Ziele eindeutig noch nicht erreicht und scheint bereit zu sein, sehr viele höhere Opferzahlen in Kauf zu nehmen als ursprünglich geplant“, sagte er dem Handelsblatt. Zwar sehe der russische Präsident die politischen, diplomatischen und finanziellen Kosten des Krieges. Diese scheine er jedoch noch tragen zu wollen.
Eine diplomatische Lösung hält der Schweizer Spitzendiplomat nicht für ausgeschlossen. Die bisherigen Verhandlungsrunden zwischen Kiew und Moskau seien „keine Alibiveranstaltungen“ gewesen.
Einen Waffenstillstand könnten beide Parteien aber nur dann erreichen, wenn sie keine Vorbedingungen stellen. Dies sei auf russischer Seite zweifelhaft.
Das atomare Risiko für den Westen schätzt Geringer derweil als gering ein. Zwar habe Putin die Bereitschaft für Russlands Waffenarsenal wie bereits bei der Annexion der Krim 2014 auf zwei hochgestuft. Solange die Nato aber nicht direkt in den Konflikt eingreife und Russland kein Nato-Land angreife, sehe er „keine große Gefahr für einen Schlagabtausch mit Atomwaffen“.
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Ein möglicher Sieg Putins hätte laut Greminger schwerwiegende Folgen für die europäische Friedensordnung. „Ein Kalter Krieg 2.0 würde den Kontinent beherrschen“, warnte er.
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Russlands Truppen beschießen in ihrem Angriffskrieg gegen die Ukraine Wohngebiete. Hunderte, wenn nicht Tausende Zivilisten sind dadurch getötet worden. Jetzt wurde sogar ein Areal mit einem Atomkraftwerk getroffen. Wird Russlands Präsident Wladimir Putin den militärischen Angriff weiter verschärfen?
Ja, das befürchte ich. Putin hat seine militärischen Ziele eindeutig noch nicht erreicht und scheint bereit zu sein, sehr viele höhere Opferzahlen in Kauf zu nehmen als ursprünglich geplant. Er sieht zwar deutlich die explodierenden politischen, diplomatischen und finanziellen Kosten seines Krieges, einschließlich des Widerstands im eigenen Land. Die russische Wirtschaft geht in die Knie, der Rubel zerfällt, und in der Vollversammlung der Vereinten Nationen stellen sich nur vier Länder an seine Seite, die auch noch diktatorisch regiert werden: Die militärischen Verbündeten Belarus und Syrien sowie Nordkorea und Eritrea. Mehr Isolation in der Weltgemeinschaft geht nicht. Noch scheint er jedoch diese Kosten tragen zu wollen.
Gibt es noch Chancen auf eine diplomatische Lösung des Krieges?
In den bisherigen zwei Verhandlungsrunden zwischen Russland und der Ukraine gab es ernsthafte Gespräche, das waren keine Alibiveranstaltungen. Immerhin haben sich die Konfliktparteien beim zweiten Treffen am Donnerstag auf die Einrichtung humanitärer Korridore in bestimmten Gebieten geeinigt, über die Hilfsgüter für die notleidende Bevölkerung geliefert werden sollen. Einen Waffenstillstand aber können die Konfliktparteien nur dann erreichen, wenn sie keine Vorbedingungen stellen wie etwa die Anerkennung territorialer Gewinne durch die Gegenseite. Allerdings ist es zweifelhaft, ob Putin einem bedingungslosen Waffenstillstand zustimmt. Putin ist noch weit von seinen militärischen und politischen Zielen entfernt, beispielsweise der völligen Zerschlagung des ukrainischen Militärs oder der Einnahme des ganzen Donbass.
Putin scheint zu allem bereit zu sein, er droht dem Westen sogar mit Atomwaffen. Wie hoch schätzen Sie die Gefahr ein, dass Putin Ernst macht und einen Nuklearkrieg entfesselt?
Putins nukleares Zündeln ist vordergründig eine sehr ungemütliche Sache. Er hat die Alarmbereitschaft für Russlands Atomwaffenarsenal von eins auf zwei hochgestuft. Vier Stufen gibt es. Als Putin die ukrainische Krim besetzte, 2014, hatte er auch schon die Stufe zwei für die nuklearen Massenvernichtungswaffen angeordnet. Solange das westliche Militärbündnis Nato jetzt nicht direkt militärisch in den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine eingreift oder Russland kein Nato-Mitglied angreift, sehe ich keine große Gefahr für einen Schlagabtausch mit Atomwaffen. Das Gleichgewicht des Schreckens funktioniert genauso wie zu Zeiten des Kalten Krieges.
Nato-Staaten wie Deutschland liefern Waffen an die Ukraine, Geheimdienste der USA und anderer westlicher Länder stellen Kiew Aufklärungsmaterial über russische Truppenstärke, deren Bewegungen und mögliche Ziele zur Verfügung. Könnte Putin diese Hilfe als westliche Aggression bezeichnen und deshalb den Atomknopf drücken?
Westliche Waffenlieferungen und das Übermitteln geheimdienstlicher Erkenntnis werden von russischer Seite toleriert. Das battle den Russen ja schon vor Beginn ihres Einmarsches bekannt. Sie haben das in ihr Kalkül beim Angriff auf die Ukraine eingepreist.
Wie soll der Westen mit Putin nach einem möglichen russischen Sieg in der Ukraine verfahren?
Es kommt darauf an, wie der Sieg ausfällt. Wenn Putin das ukrainische Militär weitgehend ausschaltet, wird er einen Siegfrieden diktieren. Dann kann er beispielsweise ohne Weiteres einen „Regime Change“ in Kiew durchführen, eine Marionettenregierung einsetzen und sich weiteres ukrainisches Gebiet einverleiben. Das ganze Paket könnte mit einer großen russischen Militärpräsenz in der Ukraine abgesichert werden. Allerdings dürfte es dann auch zu einem Guerilla-Krieg gegen die russischen Eindringlinge kommen, additionally einem Afghanistan-ähnlichen Dauerkrieg in Osteuropa. So ein Szenario hätte natürlich erhebliche Auswirkungen auf die europäische und internationale Nachkriegsordnung. Es würde sehr konfrontativ zugehen. Ein Kalter Krieg 2.0 würde den Kontinent beherrschen, eine sehr üble Vorstellung. Sollte es hingegen bald zu einem einigermaßen fairen Waffenstillstand kommen, könnte man die Konfrontation entsprechend früher überwinden und wieder kooperative Elemente in die europäische Sicherheitsordnung einbauen.
Wie kann der Westen in Zukunft wirksam vereiteln, dass Putin weitere Expansionsgelüste in die Tat umsetzt?
Es muss eine Kombination aus starker militärischer Abschreckung und der Androhung hoher wirtschaftlicher und politischer Kosten für Russland geben. Der Überfall auf die Ukraine muss Putins letzte Aggression bleiben. Andererseits sollte man auch die legitimen Sicherheitsinteressen Russlands ernst nehmen und im Dialog Lösungsansätze entwickeln.
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