Berlin „Wir brauchen einen europäischen Industriestrompreis“, sagte Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck am Montag auf dem Handelsblatt Energiegipfel in Berlin. Ohne eine länderübergreifende Lösung könne die Energiepreiskrise nicht gelöst werden. „Das muss so kommen, und ich halte das auch für realistisch“, betonte der Grünen-Politiker. Der Minister erklärte das Jahr 2023 zu einem entscheidenden Jahr für die Energiepolitik.
Habeck kündigte Ausschreibungen für den Bau neuer Gaskraftwerke und Details zu der Planung des Wasserstoffnetzes an und schloss auch die Speicherung von Kohlendioxid (Carbon Capture and Storage, kurz CCS) in Deutschland für die Zukunft nicht aus. Nachdem es im vergangenen Jahr fast ausschließlich um die Versorgungssicherheit ging, soll in diesem Jahr also wieder die Energiewende im Vordergrund stehen.
Es gibt nur ein Problem: Das ambitionierte Ziel von 80 Prozent erneuerbarem Strom bis 2030 lässt sich bei dem großen Stromverbrauch Stand heute gar nicht erreichen. Im vergangenen Jahr kommt Deutschland laut aktuellen Zahlen des Fraunhofer-Instituts für solare Energieforschung (ISE) auf 49 Prozent.
Der Ausbau der erneuerbaren Energien geht viel zu langsam voran. Die geplante installierte Leistung von 115 Gigawatt Windkraft an Land bis zum Ende des Jahrzehnts würde voraussetzen, dass wir 2022 bis 2029 die fehlenden 66 Gigawatt hinzubauen müssen. Für die ersten 50 Gigawatt hat Deutschland mehr als 20 Jahre gebraucht.
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Knapp 30.000 Windräder drehen sich mittlerweile auf Wiesen, Feldern und in der Nord- und Ostsee. Nachdem der Ausbau in den vergangenen Jahren kaum vorangegangen ist, sind 2022 erstmals wieder mehr Windräder installiert worden. 25 Prozent und damit knapp 300 Windräder mehr als im Vorjahr sind laut der Fachagentur Wind hinzugekommen. Die Zahlen liegen dem Handelsblatt exklusiv vor.
Zu wenig Windräder in Deutschland
Und trotzdem sei das deutlich zu wenig, moniert Experte Jürgen Quentin von der Fachagentur Wind an Land: „Damit wir auf den Klimaschutzpfad zurückkehren, müsste in diesem und im nächsten Jahr jeweils mehr als doppelt so viel Windenergieleistung installiert werden wie 2022“, sagte er dem Handelsblatt. Auch bei den Genehmigungen herrscht bei Weitem nicht genügend Wachstum. „Der so dringend benötigte Hochlauf der Genehmigungszahlen blieb auf Bundesebene aus“, so Quentin.
Knapp 30.000 Windräder drehen sich mittlerweile auf Wiesen, Feldern und in der Nord- und Ostsee.
(Foto: dpa)
Außerdem vereinen Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen fast die Hälfte aller neu genehmigten Windräder im vergangenen Jahr. Berlin, Bremen, Hamburg, Saarland und Bayern bilden die Schlusslichter. Sie genehmigten entweder gar keine Windräder oder wie in Bayern gerade mal acht Stück von insgesamt mehr als 4000.
>> Lesen Sie hier: In Europa wurden 2022 deutlich mehr Windräder gebaut
Habeck zeigt sich trotzdem zuversichtlich: „80 Prozent Erneuerbare bis 2030 sind zu schaffen. Das ist machbar“, betonte er am Montag in Berlin. Deutschland müsse nun zeigen, dass es sich als Industrieland mit all seinen Ansprüchen von Versorgungssicherheit und Wohlstand schnell dekarbonisieren könne, „daran wird man uns messen“, so der Minister.
Experten warnen, dass es mit Atom- und Kohleausstieg bei dem langsamen Ausbautempo der Erneuerbaren jedoch zu einer Stromlücke kommen könnte. Statt bei immer mehr Elektroautos, Wärmepumpen und strombetriebenen Anwendungen mit einer steigenden Nachfrage zu kalkulieren, rechnete die Bundesregierung unter Wirtschaftsminister Peter Altmaier die Prognosen zum Stromverbrauch jahrelang schön. Kurz vor seinem Amtsabtritt korrigierte der CDU-Politiker sich dann doch noch.
Die aufgebaute Infrastruktur für verflüssigtes Erdgas (LNG) aus Ländern wie den USA, Katar und anderen müsse nun die sichere Grundlage für die Gaskraftwerke bieten, meint Habeck.
(Foto: dpa)
Und nach der jüngsten Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) unter Altmaiers Nachfolger Habeck rechnet die aktuelle Regierung nun sogar mit einem Verbrauch von 750 Terawattstunden im Jahr 2030. Das liegt am oberen Ende der von Studien prognostizierten Bandbreite.
Situation im Stromnetz dürfte weiterhin angespannt sein
Die Situation im Stromnetz dürfte in den nächsten Jahren mindestens angespannt sein. Auch, weil die Gasimporte aus Russland auf absehbare Zeit erst einmal ausfallen. „Um den Gasverbrauch im Strombereich zu reduzieren, haben wir knapp sechs Gigawatt aus der Kohlereserve wieder ans Netz geholt oder Kraftwerksblöcke nicht abgeschaltet. Das war notwendig, aber natürlich ist es klimapolitisch eine Sünde“, sagte Habeck am Montag.
Die aufgebaute Infrastruktur für verflüssigtes Erdgas (LNG) aus Ländern wie den USA, Katar und anderen müsse nun die sichere Grundlage für die Gaskraftwerke bieten, „so reduzieren wir die Braunkohleverstromung auch wieder kurzfristig“. 14 Milliarden Kubikmeter Erdgas habe man durch die neuen LNG-Terminals schon ersetzen können.
Erst am vergangenen Wochenende hatte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nach Wilhelmshaven auch den zweiten Anlandeplatz für verflüssigtes Erdgas im norddeutschen Lubmin in Betrieb genommen. Schon in wenigen Tagen soll das dritte Terminal in Brunsbüttel folgen, kündigte Habeck in Berlin an.
Für den aktuellen Winter gibt der Wirtschaftsminister vorsichtig Entwarnung: „Wir haben Mitte Januar, und die Speicher sind über 90 Prozent gefüllt. Je höher sie am Ende des Winters gefüllt sind, desto besser.“
Trotzdem rief er die Bürgerinnen und Bürger weiter zum Energiesparen auf. Jetzt müsse es darum gehen, möglichst schnell wieder von der zusätzlichen Kohlekraft wegzukommen.
2024 wolle er nicht noch einmal sagen müssen, dass fossile Kraftwerke länger am Netz bleiben. Dann habe man bei der strukturellen Krise wirklich komplett versagt, sagte der Minister mit Blick auf Lützerath.
Mehr: Deutschland muss bis Ende 2029 täglich sechs Windräder bauen