Düsseldorf 150.000 Euro Schmerzensgeld. Das fordert eine 42-jährige Zahnärztin aus Mainz vom Pharmaunternehmen Astra-Zeneca. Sie ist auf dem rechten Ohr taub – seit sich nach einer Corona-Impfung vor zwei Jahren ein Blutgerinnsel im Ohr bildete. Ihren Beruf könne sie nicht mehr ausüben, sagt die Zahnärztin.
Der Fall wird laut Informationen des Handelsblatts am Montag vor dem Landgericht Mainz verhandelt. Es ist die erste mündliche Verhandlung gegen einen Impfstoffhersteller. Und ist damit der Auftakt für eine Prozesswelle, die im Sommer über Astra-Zeneca, Biontech, Moderna und Johnson & Johnson rollen wird.
Der Fall der Zahnärztin aus Mainz ist schließlich nur einer von vielen. Die Zahl der Klagen, die in den kommenden Wochen verhandelt werden, liegt im dreistelligen Bereich. Die meisten davon dürften Biontech betreffen, denn das Mittel Comirnaty, das Biontech und das US-Unternehmen Pfizer gemeinsam entwickelten, wurde bei drei Viertel aller Impfungen in Deutschland verabreicht.
Doch die Klagen treffen auch die anderen drei Hersteller von Corona-Impfstoffen, die wie Biontech während der Pandemie im Eiltempo Vakzine entwickelten und auf den Markt brachten.
Normalerweise dauert es Jahre, bis ein neues Medikament auf den Markt kommt und Patienten es nutzen können. Allein die klinischen Studien zur Wirksamkeit und Sicherheit von Medikamenten dauern Jahre. In der Pandemie entwickelten die Hersteller ihre Impfstoffe in weniger als einem Jahr.
Deshalb haben sie mit der europäischen Arzneimittelbehörde eine Absprache getroffen: Haftungsansprüche, die Geimpfte stellen, zahlen nicht die Hersteller, sondern die jeweiligen Regierungen. Für die Pharmaunternehmen dürften sich die finanziellen Auswirkungen der Prozesse deshalb im Rahmen halten. Doch ihre Reputation könnte empfindlich leiden.
„Pro Woche kommen ungefähr zehn Klagen dazu“
Zwei Verfahren gegen Astra-Zeneca in Deutschland wurden bereits abgelehnt, die Kläger gingen aber in Berufung. Vor zwei Wochen hätte eigentlich der erste Prozess gegen den mRNA-Impfstoffhersteller Biontech beginnen sollen, doch der Prozessbeginn wurde kurzfristig verschoben. Der Grund: ein Befangenheitsantrag gegen den Richter. Wann der Prozess aufgenommen wird, steht bisher noch nicht fest.
>> Lesen Sie auch: Wie KI die Biotech-Branche revolutioniert
Aber auch Biontech muss sich schon bald erstmals vor Gericht verhandeln. Am 3. Juli startet der erste Prozess in Deutschland gegen das Unternehmen am Landgericht Rottweil. Anwalt Joachim Cäsar-Preller, der auch die Anwältin aus Mainz vertritt, klagt laut eigenen Angaben in 180 Fällen. „Pro Woche kommen ungefähr zehn Klagen dazu“, sagt er.
Außergerichtliche Einigungen und Schadenersatz?
Cäsar-Prellers eigentliches Ziel ist es, eine außergerichtliche Einigung zu erreichen. In einigen Fällen sei das auch bereits gelungen, sagt er. „So haben zum Beispiel schon einige große Impfkonzerne Schadenersatz gezahlt“, schreibt er auf seiner Website. Genauer will er sich dazu nicht äußern, die Parteien hätten Stillschweigen vereinbart.
Nur so viel: Mit den beiden Herstellern Astra-Zeneca und Johnson & Johnson habe er außergerichtlich nicht gesprochen, die hätten sich „total versperrt“. Biontech und Moderna wollten sich auf Anfrage nicht zu möglichen außergerichtlichen Einigungen äußern.
Auf die Pharmakonzerne könnte eine Prozesswelle zukommen.
(Foto: Bloomberg/Getty Images)
Für seine Mandanten gebe es bei solch einer Einigung schnellere und klarere Ergebnisse – ohne dass sie einen langen Prozess führen müssten. „Die Prozesse werden ein langer, steiniger Weg, da bekommt man nichts geschenkt – und bestimmt nicht von den Impfstoffherstellern“, sagt Cäsar-Preller.
„Berechtigte Ansprüche würde Biontech erfüllen“
„Wurden Sie mit Biontech-Pfizer oder Moderna geimpft und leiden seit mehr als sechs Monaten an massiven Impfnebenwirkungen?“, heißt es auf der Website der Kanzlei Rogert & Ulbrich. Dort wirbt die Kanzlei auch mit „Gratisberatung“. Die Kanzlei vertritt mehr als 1500 Mandanten und hat 300 Klagen eingereicht.
Die Impfstoffhersteller wollen sich zu laufenden Verfahren nicht äußern, drücken aber den betroffenen Patienten ihr Mitgefühl aus. Biontech verweist darauf, dass jeder Fall individuell zu betrachten sei. Ein dezidiertes Team aus der Fachabteilung für Arzneimittelsicherheit prüfe „sorgfältig alle uns zugänglich gemachten Informationen“, heißt es von einer Sprecherin: „Berechtigte Ansprüche würde Biontech erfüllen.“
>> Lesen Sie auch: Tigermücke bringt Tropenvirus Chikungunya häufiger nach Europa – Erster Impfstoff vor der Zulassung
Berechtigt seien die Ansprüche dann, wenn ein kausaler Zusammenhang zwischen der Impfung und der gesundheitlichen Beeinträchtigung nachgewiesen werden könne und es ein „negatives Nutzen-Risiko-Verhältnis“ gäbe. Oder wenn der Beipackzettel nicht den aktuellen Erkenntnissen der Wissenschaft entspreche. Bei den bisher von Biontech geprüften Fällen sei bis dato „kein impfstoffassoziierter Zusammenhang festgestellt“ worden.
Biontech, Moderna, Astra-Zeneca und Johnson & Johnson scheinen wenig Angst vor der Klagewelle zu haben: Keines der Unternehmen hat für etwaige Entschädigungen für Impfgeschädigte Rückstellungen in den Bilanzen vorgesehen. Wohl auch wegen der Vereinbarungen in der EU, dass die Länder – und damit am Ende die Steuerzahler – mögliche Haftungsansprüche übernehmen.
Wie konkret diese Vereinbarungen aussehen, ob die Länder in jedem Fall übernehmen oder es Ausnahmeregelungen gibt, dazu wollen sich die Pharmaunternehmen nicht äußern. Auch dazu nicht, ob die Regelung auch bei außergerichtlichen Einigungen greift.
Auch in den USA, wo traditionell viel geklagt wird, müssen sich die Hersteller keine Sorgen machen. Bis Ende 2024 gilt für sie dort eine „Immunität“, die alle Ansprüche abweist. Geschädigte Personen könnten aber dennoch „unter bestimmten Umständen eine Klage wegen ‚vorsätzlichen Fehlverhaltens‘“ einreichen, heißt es im Geschäftsbericht von Moderna. Drei Klagen gegen Pfizer in den USA wurden offenbar schon erstinstanzlich abgewiesen.
Derweil hat Astra-Zeneca nicht nur in Deutschland mit Prozessen wie dem vor dem Landgericht Mainz zu kämpfen. Auch in Großbritannien, wo der Hauptsitz des britisch-schwedischen Unternehmens ist, wollen Patienten entschädigt werden: Dort haben sich 75 Kläger zusammengeschlossen und wollen nach dem britischen Verbraucherschutzgesetz nachweisen, dass der Impfstoff „mangelhaft“ war.
Eigentlich wollten die Familien keine Klagen anstreben, sagt Anwältin Sarah Moore. „Ihnen wäre es lieber, wenn Astra-Zeneca ihre Verluste und Verletzungen anerkennt und eine angemessene Entschädigung zahlt.“
Mehr: Biotech-Firma setzt auf neues Krebs-Medikament gegen Myelofibrose