Andreas Herrmann ist Direktor am Institut für Mobilität der Universität St. Gallen.
Zheng Han ist Professor of Innovation and Entrepreneurship an der Sino-German School for Postgraduate Studies (CDHK) an der Tongji University in Shanghai.
Jahrelang haben deutsche Automobilhersteller auf Elon Musk und Tesla gestarrt. Aber der ist womöglich gar nicht der entscheidende Wettbewerber. Es wäre viel ratsamer gewesen, die Strategiebausteine genau zu verstehen, auf deren Grundlage die chinesische Konkurrenz ihren weltweiten Aufstieg plant. Wichtig sind dabei vor allem sechs Punkte.
1. Digital first!
Die chinesischen Autohersteller haben von Anfang an auf das digitale Erlebnis für ihre Kunden gesetzt. Diese Dimension bot eine gute Chance, um Wettbewerbsnachteile bei Motor, Getriebe, Marke und Design auszugleichen oder sogar überzukompensieren.
Für die chinesischen Hersteller ist das Auto nicht nur ein Fortbewegungsmittel, sondern Lifestyleprodukt. Mit diesem Fokus zielen sie darauf, die vielen jungen „digital natives“ in China und im Ausland als Kunden zu gewinnen. Kaum überraschend, dass die chinesischen Automarken den „JD Power China Tech Experience Index“ sowohl im Luxus- als auch im Massensegment anführen.
2. Fokus auf neue Kundensegmente
Chinesische Hersteller sind darauf bedacht, immer neue Kundensegmente zu erkennen und mit passgenauen Produkten zu bedienen. So brachte Wuling Hongguang Mini EV im Jahr 2020 einen elektrischen Viersitzer zu einem Startpreis von 4200 US-Dollar auf den Markt. Das Auto war bereits 2021 das meistverkaufte vollelektrische Fahrzeug (BEV) in China.
Trotz des niedrigen Kaufpreises gilt es als modern und trendy und wird vor allem in mittelgroßen chinesischen Städten von sozialen Aufsteigern gekauft.
Chinesische Autohersteller lagern die Produktion möglichst aus
3. Möglichst keine Assets
Befreit von den Traditionen und Handlungszwängen westlicher Autobauer fokussieren sich die chinesischen Autobauer vorrangig auf Forschung und Entwicklung, Design und Marke. Die Produktion lagern sie möglichst aus. Dies gilt insbesondere in den Anfängen der Unternehmensentwicklung, um eine hohe Wachstumsgeschwindigkeit sicherzustellen und Kapital zu schonen.
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Darüber hinaus bevorzugen sie den Direktvertrieb, bestenfalls bauen sie in Städten Showrooms und Experience Centers. Alles andere wird online abgewickelt, ohne große Investitionen in ein Händlernetz. So ging etwa XPeng trotz einer eigenen Lizenz zur Fahrzeugherstellung eine Partnerschaft mit Haima ein, um seine Fahrzeuge dort herstellen zu lassen.
4. Global, nicht national oder regional denken
Chinesische Autohersteller denken und handeln von Beginn an global. Nio und XPeng haben Forschungs- und Entwicklungszentren an verschiedenen Standorten auf der Welt, und zwar insbesondere im Silicon Valley, wo sich die besten Köpfe für E-Mobilität und autonomes und vernetztes Fahren befinden. Zudem greifen sie auf etablierte Ressourcen zurück: Nio besitzt in München ein Designcenter und in den USA ein Zentrum für die IT-Infrastruktur.
5. Monetarisierung von Services
Viele chinesische Hersteller kommen mit innovativen Pay-per-Use-Modellen auf den Markt, um Kunden für die Fahrzeuge zu begeistern. So verfolgt Nio die Idee von Battery as a Service (BaaS), bei dem Autokäufer die Batterie ihres E-Autos nur mieten.
Dies reduziert nicht nur den Preis des Gesamtfahrzeugs, sondern nimmt dem Kunden auch die Unsicherheit bezüglich der Leistungsentwicklung der Batterie und des Wiederverkaufspreises des Autos. Wie Tesla bieten auch XPeng und Nio ihre Fahrerassistenzsysteme in einem Abomodell an.
Chinesische Autokonzerne steigen bei Smartphone-Herstellern ein
6. Aufbrechen von Branchengrenzen
Chinesische Hersteller zögern nicht, Branchengrenzen zu überschreiten, wenn sie dadurch wachsen können. Der Autokonzern Geely hat 79 Prozent des Smartphone-Herstellers Meizu übernommen und plant für 2023 den Launch eines neuen Smartphones.
Hintergrund ist die Idee, das Smartphone noch besser mit dem Auto zu verzahnen. Im Kern soll dadurch ein aufeinander abgestimmtes Multi-Screen-Erlebnis entstehen. Dieser Logik folgend hat auch der chinesische Smartphone-Hersteller Xiaomi angekündigt, in den Markt für Elektrofahrzeuge einzusteigen – also das zu tun, woran Apple seit Langem arbeitet. Bereits 2024 soll das Fahrzeug auf den Markt kommen.
XPeng interessiert sich sogar für Urban Air Mobility. In Dubai hat die Flugtochter XPeng AeroHT bereits die ersten Testflüge absolviert. Geely gehört zu den Investoren in Volocopter, einem deutschen Luftfahrtunternehmen, das elektrische Flugtaxis und Lastendrohnen herstellt. Geely und Volocopter haben ein Joint Venture für China vereinbart.
Fazit
China ist der weltweit größte Elektroautomarkt. Deutsche Hersteller können ihre Wettbewerbsvorteile dort bislang nicht ausspielen und haben es schwer, im chinesischen Innovationstempo mitzuhalten. Gleichzeitig führt die hohe Abhängigkeit vom chinesischen Markt zu einem zunehmenden Klumpenrisiko.
Es ist deshalb höchste Zeit, dass die Hersteller ihre Chinastrategie radikal überdenken. Es reicht nicht aus, vor Ort zu fertigen und punktuelle Produktanpassungen vornehmen – vielmehr sollten sie das Produkt ganzheitlich für den lokalen Markt entwickeln und sich dem Tempo des chinesischen Marktes anpassen.
Die Autoren:
Andreas Herrmann ist Direktor am Institut für Mobilität der Universität St. Gallen.
Zheng Han ist Professor of Innovation and Entrepreneurship an der Sino-German School for Postgraduate Studies (CDHK) an der Tongji University in Shanghai.
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