Berlin Gesundheitsminister Karl Lauterbach wollte in der Bundespressekonferenz „ein 20-jähriges Versprechen einzulösen“, wie er am Donnerstag sagte. So lange ist es her, dass die Grundlagen für die elektronische Patientenakte gelegt wurden.
„Tatsächlich ist sie nie richtig umgesetzt worden“, sagte der SPD-Politiker. In Deutschland wird seit Jahrzehnten versucht, flächendeckende digitale Gesundheitsakten einzuführen, damit Ärzte, Forscher und Unternehmen auf Behandlungsdaten zurückgreifen können. Bisher existiert diese Akte aber nur für einen sehr kleinen Teil der Patienten.
Lauterbach will das ändern und der Digitalisierung im Gesundheitswesen endlich Schub verleihen. Seine Pläne sollen auch einen besseren Zugang von forschenden Unternehmen auf Gesundheitsdaten ermöglichen und den Einfluss des Bundesdatenschützers beschneiden. „Deutschlands Gesundheitswesen hängt in der Digitalisierung um Jahrzehnte zurück“, sagte Lauterbach. „Das können wir nicht länger verantworten.“
Ihm muss gelingen, was keinem seiner Vorgänger gelungen ist – und mit auch mit Widerständen rechnen, die sich bereits ankündigen. Sonst landet auch er in der Digitalisierungs-Falle.
Als freiwilliges Angebot war die E-Akte schon 2021 eingeführt worden, aber nur rund ein Prozent der 74 Millionen Versicherten nutzt sie. Ein Grund dafür ist, dass sie bislang kaum Funktionen hat und die Anmeldung viel zu kompliziert ist. Viele hätten das Projekt bereits aufgegeben, sagte Lauterbach. „Bei Ärzten hat sich eine Art Defätismus entwickelt.“
„Neustart“ der elektronischen Patientenakte
Bis Ende 2024 will Lauterbach die E-Akte für alle verpflichtend machen – es sei denn, man lehnt ausdrücklich ab. Dieses sogenannte „Opt-out“-Verfahren soll dazu führen, dass bis Ende 2025 80 Prozent der gesetzlich Versicherten in Deutschland eine elektronische Akte haben. Das dafür nötige Gesetz will Lauterbach in den kommenden Wochen vorstellen, er spricht von einem „Neustart“.
Einige Fragen sind dabei noch offen. Wie etwa Patienten genau widersprechen können, ist bislang noch unklar. Ungeklärt ist auch, wie ältere medizinische Daten in die elektronische Akte kommen sollen. Dafür gebe es bislang noch keinen Prozess, sagte Lauterbach. Ein Weg wäre, dass die Hausärzte die Daten in die elektronische Akte laden.
Das Echo auf die Pläne fiel gemischt aus. Der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen, sagte, die verpflichtende Einführung im kommenden Jahr sei „für jeden erkennbar unrealistisch“. Dafür fehlten konkrete inhaltliche Vorgaben, „die daraus abgeleiteten technischen Festlegungen und ihre datenschutzkonformen Implementierungen in den IT-Systemen“.
„Für den Patienten oder Arzt muss die Patientenakte so einfach wie eine Suchmaschine zu bedienen sein.“
(Foto: IMAGO/Political-Moments)
Der gesundheitspolitische Sprecher der Grünen, Janosch Dahmen, mahnte: „Es darf kein zusätzlicher Mehraufwand entstehen.“ Die digitale Akte müsse zum Standard werden.
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Der Chef der Techniker-Krankenkasse, Jens Baas, sprach wiederum von einem „wichtigen Push“ für die E-Akte. Die „Opt-out“-Regelung allein werde die Nutzung in den Arztpraxen aber nicht steigern. „Die Akte darf kein stummer Begleiter im Hintergrund sein, sondern muss aktiv von Ärzten und Patienten genutzt werden“, sagte Baas.
Dafür müsse sie technisch einfach zu bedienen sein und vor allem bei jedem Arztbesuch automatisch befüllt werden, damit sie immer aktuell ist. Der Gesundheitsexperte David Matusiewicz von der FOM-Hochschule sagte, der „Neustart“ sei dringend nötig, um den „Staub aus dem System zu spülen“.
Andere Länder sind Deutschland weit voraus
Ein Blick ins Ausland zeigt, wie das gehen kann. Eine Studie der Beratungsgesellschaft Boston Consulting Group (BCG), die dem Handelsblatt vorliegt, zeigt, wie es andere Länder besser machen. „Deutschland ist im internationalen Vergleich im Bereich digitale Gesundheit eines der Schlusslichter“, sagt Andreas Klar, Geschäftsführer und Partner bei BCG.
Die internationale Analyse zeige, dass es nur einen Bereich gebe, in dem andere Länder auf Deutschland schauen – und das seien die digitalen Gesundheitsanwendungen, mit denen bestimmte Gesundheitsapps auf Rezept von der Kasse erstattet werden können. In wichtigen Feldern wie der E-Akte habe Deutschland allerdings nichts vorzuweisen.
Digitale Patientenakte soll automatisch eingeführt werden
Das „Opt-out“-Verfahren sei zwar in vielen Ländern bereits erprobt, wie die Analyse zeigt. Dazu zählen etwa Österreich, Dänemark, Schweden und Estland. In dem osteuropäischen Land sind seit 2015 95 Prozent der medizinischen Daten in einer zentralen E-Akte, zudem sind alle Leistungserbringer – also etwa Ärzte und Kliniken – daran angeschlossen und verpflichtet, sie zu befüllen. Diesen Punkt sieht Klar als zentralen Erfolgsfaktor.
Industrie darf mit Patientendaten forschen
Schlusslicht ist Deutschland im internationalen Vergleich auch darin, Gesundheitsdaten für die Forschung zur Verfügung zu stellen. „Die Lage für Unternehmen, die mit Gesundheitsdaten forschen wollen, ist in Deutschland unzureichend“, sagt Klar. Es gebe hier keine guten Bedingungen, weil Gesundheitsdaten nicht zentral gespeichert und für die Industrie verfügbar gemacht würden wie zum Beispiel in Schweden oder Dänemark.
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Das ist ein erheblicher Standortnachteil. Gesundheitsminister Lauterbach bedauerte beispielsweise, dass das Mainzer Unternehmen Biontech seine klinische Forschung wegen fehlender Patientendaten von Deutschland nach Großbritannien verlagere.
Michael Hallek, Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, warnte, dass Deutschland deutlich hinter andere Länder zurückfalle, etwa in der Krebsforschung. Gerade in der Coronapandemie habe sich gezeigt, dass man in Deutschland nicht über Patientendaten verfüge, sondern nur über Auswertungen aus Israel oder Großbritannien. „Wenn wir so weitermachen, bleiben wir ein Abwurfland für Innovationen aus anderen Ländern.“
Lauterbach will das ändern. Bis Ende 2026 sollen 300 Forschungsvorhaben elektronische Daten von Patienten nutzen können, kündigte der Minister an. Konkret sollen die Daten pseudonymisiert über das Forschungsdatenzentrum abgerufen werden können. Name und andere Merkmale werden dabei durch ein Pseudonym ersetzt, sodass sie nicht mehr einer bestimmten Person zugeordnet werden können.
Bei einer Kommission sollen Unternehmen Anträge für Forschungsvorhaben einreichen können, die dann über die Freigabe entscheidet. BCG-Experte Klar sagt, dass das Vorhaben eine Lücke zu anderen europäischen Ländern schließe. Langsame Vertragsverhandlungen und Genehmigungsverfahren für klinische Studien würden dadurch allerdings nicht behoben, sagte er.
Gematik wird verstaatlicht
Auch Lauterbach geht es zu langsam. Er will das Vetorecht des Bundesdatenschutzbeauftragten und des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) beschneiden. Sie sollen künftig Teil eines Ausschusses sein, in dem auch Vertreter aus Medizin und Ethik über solche Entscheidungen beraten. So gewinne man „Qualität und Zeit“, sagte Lauterbach.
Außerdem will Lauterbach die mehrheitlich bundeseigene Gesellschaft Gematik vollständig verstaatlichen und zu einer Digitalagentur umbauen. Die Behörde ist für die Digitalisierung des Gesundheitswesens zuständig, bisher sind auch Organisationen von Ärzten, Kassen und Kliniken beteiligt. Lauterbach erhofft sich davon ebenfalls mehr Geschwindigkeit bei Entscheidungen.
Der gesundheitspolitische Sprecher der Union Tino Sorge (CDU) kritisierte, dass so wichtige Akteure ausgeschlossen würden. „Der Akzeptanz bei Ärzten, Apothekern und in Kliniken wird dieser Umbau einen Bärendienst erweisen“, sagte Sorge. „Er wird die Distanz zwischen Regierung und medizinischer Praxis nur noch erhöhen.“ Die Vorstandsvorsitzende des Spitzenverbands der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), Doris Pfeiffer, nannte die Entscheidung „nicht sinnvoll“.
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