Düsseldorf, Berlin Steigende Preise und Zinsen, die hohen Energiekosten und der Krieg in der Ukraine lasten schwer auf den Zukunftsaussichten der deutschen Unternehmen – vor allem aus dem Mittelstand. Das ist die schlechte Nachricht. Die gute: Kleine und mittelgroße Firmen haben vorgesorgt und im abgelaufenen Geschäftsjahr ihre Bargeldreserven erhöht.
Die Liquiditätsquote, die das Verhältnis des Bargelds zur Bilanzsumme misst, stieg Ende des Geschäftsjahrs quer über alle Branchen im Schnitt von 7,1 auf 8,6 Prozent. Der großen Mehrheit der Unternehmen droht daher keine Überschuldung.
Das ist das Ergebnis einer anonymisierten Auswertung des Deutschen Sparkassen- und Giroverbands (DSGV) von rund 9000 Bilanzen, die dem Handelsblatt vorliegt. Dabei geht es um Firmen mit einem Jahresumsatz zwischen 20 und 250 Millionen Euro.
Zwar gelang es den Unternehmen im vergangenen Jahr, die Umsätze trotz des schwierigen Umfelds um durchschnittlich 14,4 Prozent zu erhöhen – und die Gewinne sogar um 36 Prozent. Doch die Wirtschaft ist zweigeteilt. „Während einige Segmente, vor allem die exportorientierten Branchen des verarbeitenden Gewerbes, ihre Erträge stark steigern, stehen die konsumorientierten Branchen vor erheblichen Herausforderungen“, sagt DSGV-Vorstandsmitglied Karolin Schriever.
Neben der auslandsstarken Chemie- und Pharmabranche haben Metall-, Maschinen- und Fahrzeugbau die Gewinne überproportional stark verbessert. Im Gastgewerbe und bei den privaten Dienstleistungen brachen die Gewinne dagegen um mehr als 40 Prozent ein. Im laufenden Jahr dürfte die hohe Inflation vor allem dem Einzelhandel Probleme bereiten.
Wirtschaft: Teure Energie und geringes Wachstum belasten
In der Folge sind die Unterschiede zwischen den Branchen hinsichtlich der Finanzkraft 2022 noch größer geworden. Dieser Trend dürfte sich auch 2023 fortsetzen, weil dynamische Märkte wie Asien und die Weltwirtschaft deutlich stärker wachsen als Deutschland. Davon profitieren Unternehmen mit einem starken Auslandsgeschäft.
Hingegen leiden überwiegend auf den Binnenmarkt orientierte Firmen und Branchen unter dem schwächeren Wachstum in Deutschland. „Insbesondere die Energiekosten werden weiter hoch bleiben, was gerade die unteren Einkommensklassen der privaten Haushalte überproportional belastet“, sagt DSGV-Vorstandsmitglied Schriever. Dies werde sich negativ auf die davon abhängigen Branchen auswirken.
Jüngste Konjunkturdaten bestätigen das. Die Industrieproduktion ist im März im Vergleich zum Vormonat um 3,3 Prozent gesunken. Auch die Einzelhandelsumsätze sind gefallen.
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Hohe Gewinne in der Industrie
Im vergangenen Jahr war die Nachfrage vor allem aus dem Ausland noch ungebrochen hoch und ließ die Erträge in der deutschen Industrie auf breiter Front steigen. Der Metall-, Maschinen- und Fahrzeugbau verbesserte nach Auswertung des DSGV seine Umsätze um durchschnittlich 23 Prozent. Die Gewinne vor Steuern und Zinsen (Ebit) legten gegenüber dem Jahr davor sogar um 40 Prozent zu.
Mit Blick auf 2023 dürfte dieser Trend anhalten, vorausgesetzt, die Firmen verkaufen ihre Produkte nicht nur in den USA, sondern auch in Asien. Denn das stärkste Wachstum dürfte es in diesem Jahr in China geben, nachdem die kommunistische Regierung die strikten Corona-Ausgangsbeschränkungen beendet hat.
Angesichts hoher Nachfrage und Nachholeffekten können viele Firmen steigende Preise bei Material und Personal noch erfolgreich weitergeben, sodass die Ertragssituation in diesem Jahr gut bleiben dürfte. Das hat sich bereits in den ersten Monaten dieses Jahres gezeigt.
Die energieintensiven Branchen hatten zwar Ende des vergangenen Jahres infolge der hohen Preise für Gas und Strom die Produktion gedrosselt. Seit einigen Monaten sinken die Preise an den Energiebörsen aber wieder und hellen die Stimmung in den Unternehmen auf. Sektoren wie Chemie oder Papier konnten ihre Produktion stabilisieren.
Zwischen Dezember und Februar ist die Fertigung in den energieintensiven Sektoren insgesamt um 7,5 Prozent gestiegen, wie Daten des Statistischen Bundesamts zeigen. Allerdings ist eine weitere Erholung noch keine ausgemachte Sache. Im März sank die Produktion der energieintensiven Branchen um 3,3 Prozent.
Bau und Immobilien: Robust in die nahende Krise
Auffällig ist: Binnen eines Jahres hat eine Branche ihre Gewinne vor Steuern und Zinsen (Ebit) im Schnitt nahezu verdoppelt. Es geht um die deutschen Baufirmen. Die Bilanzanalyse des DSGV zeigt zudem, dass die Umsätze „nur“ um fünf Prozent gestiegen sind. Daraus ergibt sich, dass die Branche 2022 doppelt so profitabel wirtschaftete wie im Jahr davor.
Den Firmen gelang es, Preissteigerungen beim Material überproportional an die Kunden weiterzugegeben. Dabei half der chronische Mangel an Fachkräften und Baumaterialien. Die hohe Nachfrage stieß auf ein geringes Angebot.
Die guten Zeiten für die Branche sind vorbei.
(Foto: imago images/McPHOTO)
Doch die guten Zeiten sind für die Baubranche 2023 vorbei. Stark steigende Zinsen, die die Kosten für Bauträger nach oben treiben, und höhere Anforderungen der Banken bei der Kreditvergabe kehren den Trend um. Die Zahl der Baugenehmigungen sank nach Angaben des Statistischen Bundesamts im Februar den zehnten Monat in Folge.
In Deutschland wurden nur noch gut 22.000 Wohnungen genehmigt, ein Fünftel weniger als im Vorjahresmonat. Große Immobilienfirmen wie Vonovia haben angekündigt, in diesem Jahr auf Neubauten zu verzichten.
Weil das Neubaugeschäft lahmt, dürften die Umsätze und Gewinne der lange Zeit boomenden Baubranche in diesem Jahr einbrechen. Insofern taten die Unternehmen gut daran, ihre Eigenkapitalquoten im abgelaufenen Jahr zu erhöhen. Bei den Baufirmen stiegen sie binnen eines Jahres von durchschnittlich 33,6 auf 34,2 Prozent und bei den Immobilienfirmen von 38,2 auf 40,8 Prozent.
Inflation: Steigende Preise bedrohen den Einzelhandel
Angesichts hoher Preissteigerungen gelang es dem Einzelhandel zwar, die Umsätze um durchschnittlich 26 Prozent im abgelaufenen Geschäftsjahr zu steigern. Doch die Gewinne legten nur um elf Prozent zu. Darunter litt die Profitabilität: Vor Steuern und Zinsen blieb bei den Firmen im Schnitt nur noch 4,4 Prozent Gewinn übrig, nach 4,9 Prozent im Jahr davor. Die Eigenkapitalquote sank von 20 auf 17,5 Prozent.
Die Branche ist schwächer als andere finanziert und damit anfällig für Krisen. Die Deutsche Bundesbank analysiert in ihrem Konjunkturbericht für April, dass der private Verbrauch und die konsumnahen Dienstleister im ersten Quartal unter der hohen Inflation und der daraus resultierenden Kaufzurückhaltung leiden. Timo Wollmershäuser, Konjunkturchef des Ifo-Instituts, erklärt: „Die hohe Inflation zehrt an der Kaufkraft der privaten Haushalte und lässt den Konsum schrumpfen.“
Als Konsequenz drohen vermehrt Insolvenzen. Der Handelsverband Deutschland (HDE) rechnet damit, dass in diesem Jahr 9000 Geschäfte aufgeben werden. Aufgrund höherer Kosten geraten Erlöse und Gewinne unter Druck. Ende des Jahres würden damit bundesweit 311.000 Geschäfte übrig bleiben.
Bereits im März war die Zahl der Insolvenzen nach vorläufigen Daten des Statistischen Bundesamts um 13 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen – und betroffen war vor allem der Einzelhandel. Zuletzt kündigte der Modehersteller Ahlers an, wegen drohender Zahlungsunfähigkeit einen Insolvenzantrag beim Amtsgericht Bielefeld zu stellen.
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Zuvor hatte Gerry Weber ein Stabilisierungs- und Restrukturierungsverfahren beantragt. Die Modekette Peek & Cloppenburg und der Schuhhändler Görtz gingen in ein Schutzschirmverfahren.
Konsum: Gastgewerbe und Dienstleister mit starken Einbußen
Am schwierigsten sieht es in Branchen aus, die direkt unter dem sinkenden Einkommen der Privathaushalte leiden und die bereits im abgelaufenen Jahr Ertragseinbußen hinnehmen mussten. Zwar steigerten Firmen im Hotel- und Gaststättengewerbe sowie private Dienstleister wie Konzertveranstalter, Museen, Sportstätten, Putzservices und Friseure im abgelaufenen Geschäftsjahr ihre Umsätze.
Doch das ging auf Kosten der Profitabilität. Die Gewinne brachen aufgrund massiver Kostensteigerungen um 47 Prozent im Gaststättengewerbe und 57 Prozent bei den privaten Dienstleistern ein. 2021 war es noch gelungen, höhere Preise an die Kundschaft weiterzureichen, weil die Verbraucher nach den Lockdowns in der Coronapandemie einen Nachholbedarf verspürten. Das gelang 2022 aber nicht mehr.
Während der Coronapandemie hatten die privaten Haushalte Schätzungen des IfW zufolge auf Konsum in einer Höhe von rund 200 Milliarden Euro verzichtet.
Insbesondere das Gastgewerbe und die Dienstleister hatten auf eine starke Ausweitung nach Ende der Coronabeschränkungen gehofft. Auch die Bundesregierung hatte im Januar 2022 noch einen Anstieg des privaten Konsums von sechs Prozent prognostiziert.
Doch starke Preissprünge bei Gas und Strom infolge des Ukrainekriegs sorgten dafür, dass die Haushalte einen großen Teil der Ersparnisse allein zur Aufrechterhaltung des bisherigen Konsums nutzten. Letztlich stieg der private Konsum 2022 laut Statistischem Bundesamt nur um 3,4 Prozent.
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Eine Besserung der Lage ist nicht in Sicht, insbesondere bei den Selbstständigen, die einen großen Anteil im Gastgewerbe und Dienstleistungssektor ausmachen. Das belegt die neue Auswertung des Ifo-Jimdo-Geschäftsklimaindex, die dem Handelsblatt vorliegt.
Die Geschäftslage der Selbstständigen ist demnach um 6,6 Punkte zwischen März und April auf nun 1,3 Punkte zurückgegangen. „Die Entwicklung bei den Solo-Selbstständigen und Kleinstunternehmen fällt im April gegenläufig zur Gesamtwirtschaft aus“, sagt Katrin Demmelhuber vom Ifo-Institut.
In der Gesamtwirtschaft sind die laufenden Geschäfte zwar auch zurückgegangen, aber nur leicht um 1,1 Punkte auf nun 16,4 Punkte. Der Index für Kleinstunternehmen und Selbstständige basiert auf Erhebungen des Ifo-Instituts in Zusammenarbeit mit dem IT-Dienstleister Jimdo.
Die schwierigere Situation hängt auch damit zusammen, dass im Gastgewerbe und bei den Dienstleistern der Arbeitskräftemangel am akutesten ist. Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben sich während der pandemiebedingten Einschränkungen in andere Bereiche umorientiert und kommen jetzt nicht mehr zurück.
„Wir sehen, dass Arbeitnehmer in bestimmten Bereichen und zu bestimmten Bedingungen nicht arbeiten wollen und in der aktuellen Situation auch nicht mehr müssen“, sagt der Ökonom Simon Jäger, Chef des Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA). Zuletzt gab es dem Branchenverband Dehoga zufolge rund 50.000 offene Stellen in Restaurants und Cafés, Hotels, Pensionen und ähnlichen Betrieben.
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