Der russische Überfall auf die Ukraine hat ein beinahe weltweites verteidigungspolitisches Erdbeben ausgelöst. In Deutschland soll es nun zur Modernisierung der Bundeswehr ein schuldenfinanziertes Sondervermögen von 100 Milliarden Euro geben. Darüber hinaus plant die Bundesregierung, den jährlichen Verteidigungsetat von zuletzt 47 Milliarden auf bis zu 80 Milliarden Euro zu erhöhen – in der Weltrangliste der Militärausgaben rückt Deutschland damit hinter den USA und China auf Platz drei vor und überholt Russland deutlich.
Mit dem Geldsegen sollen die Streitkräfte kraftvoll zur Landes- und Bündnisverteidigung ertüchtigt und der lange bekannte Materialnotstand endlich behoben werden. Doch wie sind die unerwartet großen finanziellen Spielräume überhaupt sinnvoll zu nutzen? Das Spektrum der öffentlichen Debatte reicht von der Wiedereinführung der Wehrpflicht über eine bessere Rüstungskoordination in der Europäischen Union bis zur Radikalreform des deutschen Beschaffungswesens.
Bundesverteidigungsministerium und deutsche Rüstungshersteller befinden sich bereits in intensiven Gesprächen. Ressortchefin Christine Lambrecht stellte bislang vor allem eine Straffung und Vereinfachungen des Vergaberechts in Aussicht. Darüber spreche man bereits mit dem Justizministerium, erklärte sie. Allerdings: Die angekündigte Vergaberechtsreform ist ein alter Hut, der nicht zum Ziel führen wird. Das zeigt der Blick in die Vergangenheit.
Das Beschaffungswesen der Bundeswehr wurde in einem sicherheitspolitischen Kontext geplant, der heute weitgehend obsolet ist. Eine nur graduelle Veränderung des deutschen Beschaffungswesens und damit auch des 12.000 Mitarbeiter starken Koblenzer „Bundesamts für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr“ wird auf keinen Fall ausreichend sein. Was wir jetzt brauchen, ist eine Zäsur.
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Die unendliche Geschichte von 120.000 Sturmgewehren
Das Beschaffungsamt muss schon deshalb vom Kopf auf die Füße gestellt werden, weil es im Vergleich mit ähnlichen öffentlichen oder privatwirtschaftlichen Einrichtungen personell völlig überdimensioniert ist. Auch die Beschaffungsprozesse und die -organisation in der Bundeswehr müssen radikal umgebaut, vereinfacht und professionalisiert werden. Diese Forderung ist nicht neu. Sie wird – ohne dass dies spürbare Konsequenzen gehabt hätte – schon im Bericht der Strukturkommission der Bundeswehr vom Oktober 2010 erhoben.
Seit Langem richtet sich der Hauptvorwurf stets gegen das öffentliche Vergabe- und Vertragsrecht. Es soll durch geregelte Verfahren einen Ordnungsrahmen schaffen und für Transparenz, Wettbewerb und Wirtschaftlichkeit bei Auswahlentscheidungen sorgen. Sehen Bieter bei einem Vergabeverfahren ihre Rechte verletzt, können sie sich mit einer Beschwerde an den öffentlichen Auftraggeber oder die Justiz wenden und die Auftragsvergabe stoppen.
Ein prominenter, seit mehreren Jahren ungelöster Fall ist der Streit zwischen dem Waffenhersteller Heckler & Koch und dem Konkurrenten C.G. Haenel. Dabei geht es um 120.000 neue Sturmgewehre für die Bundeswehr. Heckler & Koch sieht seine Patentrechte durch C.G Haenel verletzt. Die Beschaffer hatten im Vergabeverfahren schlicht die patentrechtliche Dimension übersehen und damit endlose Streitigkeiten ausgelöst. Bis heute konnte der Auftrag nicht vergeben werden.
Alle Reformschritte verpufften wirkungslos
Der Bieterrechtsschutz gilt als zentraler Störfaktor für eine unfallfreie und zügige Auftragsvergabe. Schon mehrmals hat die Politik versucht, den Rechtsrahmen anzupassen, um Materials zügiger in die Truppe zu bringen. Die „Agenda Rüstung“ aus dem Jahr 2014 und das „Weißbuch 2016“ sind dafür nur zwei Beispiele. Auch der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD aus dem Jahr 2018 und der aktuelle Vertrag zwischen den Ampelkoalitionären nahmen beziehungsweise nehmen sich eine Neuregelung der zum Teil seit Jahrzehnten unveränderten Rahmenbedingungen des deutschen Rüstungswesens vor.
Tatsächlich sind die Anforderungen zur Beschaffung militärischer Güter inzwischen deutlich geringer, als es noch vor Jahren der Fall conflict. Bei Schlüsseltechnologien kann sogar ganz auf einen Verfahrenswettbewerb verzichtet werden. Doch Papier ist bekanntlich geduldig. Im wirklichen Leben kam von den Änderungen nichts an. Die Reparatur der „Gorch Fock“ beispielsweise lief völlig aus dem Ruder. Seit 2015 explodierten die Kosten für das Segelschulschiff der deutschen Marine von zehn auf rund 135 Millionen Euro.
Erst im vergangenen Jahr konnte die „Gorch Fock“ wieder in See stechen. Auch im Fall der „Fregatte 126“, des mit geplanten 5,3 Milliarden Euro größten Schiffbauprojekts in der Geschichte der deutschen Marine, benötigte die Beschaffungsorganisation gleich mehrere Jahre und wiederholte Anläufe, um Verträge mit Lieferanten für die vier Mehrzweckkampfschiffe zu schließen. Bei Hubschraubern und IT-Ausstattung sieht es nicht besser aus.
Die Ausrüstungsmisere hat organisatorische Gründe
Alle Reformschritte sind wirkungslos verpufft, weil die Politik es trotz großer Ankündigungen bei punktuellen Eingriffen ins Beschaffungswesen beließ. Echte, sichtbare Fortschritte oder Erfolge bei der Verbesserung der Rüstungsbeschaffung wurden nicht erreicht – die Bundeswehr geriet stattdessen immer tiefer in eine Ausrüstungskrise. Heeresinspekteur Alfons Mais hat das jüngst erfrischend offen auf den Punkt gebracht: „Die Bundeswehr steht mehr oder weniger clean da.“
Und daran wird die von der Politik nun wieder ins Spiel gebrachte Erleichterung der Beschaffungsprozesse nichts ändern. Denn die tiefer liegenden Ursachen für die Ausrüstungsmisere der Bundeswehr sind organisatorischer Natur – sie wurden bisher aufgrund politischer Rücksichtnahme und aus Furcht vor der starken Personalvertretung ausgeblendet.
Trotz aller regulatorischen Erleichterungen und zusätzlich eingestelltem Fachpersonal scheitert das Beschaffungsamt in Koblenz nach wie vor zu häufig daran, die Vergabe von Aufträgen zuverlässig und qualitativ hochwertig abzuwickeln. Der Behörde fehlen professionelle Rechtskenntnisse, ihre Steuerungsfähigkeit komplexer Militärprojekte ist mangelhaft, die Kommunikation im Marktumfeld für Rüstungsgüter unterentwickelt. Auch 14 Jahre nach Inkrafttreten des Verteidigungsvergaberechts ist das Amt daher handlungsunsicher, fehleranfällig und beratungsresistent.
Die Behörde wirkt bei der Durchführung von Beschaffungsverfahren und dem Vollzug von Rüstungsverträgen uninformiert und schwerfällig. Das handwerkliche Einmaleins professioneller Beschaffung und Vertragskontrolle beherrscht diese bürokratische Mammutorganisation nicht. Deshalb müssen ihr dringend Zuständigkeiten genommen und auf die Truppe verlagert werden. Mittelfristig ist auch ein Wechsel des Organisationsmodells erforderlich, das Beschaffungsamt muss in eine Agentur oder Kapitalgesellschaft umgewandelt werden.
Das wäre der richtige Ansatzpunkt, um das ineffiziente Beschaffungswesen zu entrümpeln und trendy aufzustellen. Nur wenn die Bundesregierung den verkrusteten Koblenzer Behördenapparat nicht länger schont, kann der neue Geldsegen der Bundeswehr überhaupt helfen.
Der Autor: Jan Byok ist Rechtsanwalt und Oberst der Reserve.
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