Wie weit kann und wird Inklusion von Menschen mit Behinderung gehen? Ein skeptischer Text auf t-online stößt auf Widerspruch bei der gehörlosen Aktivistin und Kommunalpolitikerin Julia Probst.
Menschenrechte sind unteilbar. Dennoch steht Inklusion – das Menschenrecht behinderter Personen auf Bildung, Selbstverwirklichung, Teilhabe und den Zugang zu Medizin oder Transport – immer wieder zur Diskussion.
Diesen Eindruck hatte ich beim Tagesanbruch von Florian Harms zum Weltgipfel für Menschen mit Behinderung. Das beginnt bereits mit einem grundsätzlichen Missverständnis des Autors, wie er den früheren Schulalltag seines blinden Ex-Mitschülers einordnet, mit den Versuchen der Klasse, ihn so gut wie möglich zu integrieren. Wenn die Schüler mit dem Blinden von Raum zu Raum hetzen mussten, ist das aber nichts anderes als schlechte Raum- und Zeitplanung der Verantwortlichen. Da ist die Lösung bessere Organisation, nicht Ausgrenzung.
Jeder sollte das im Hinterkopf haben, denn jeder sollte sich bewusst sein: Wer heute die Grundrechte von Menschen mit Behinderungen in Frage stellt, bringt damit morgen vielleicht die eigenen Rechte in Gefahr. Nur vier Prozent der Behinderungen bestehen ab Geburt. Der Rest entsteht mit der Zeit: durch Unfälle, durch Erkrankungen und vor allem durch das Altern. Dann heißt es: Pech. Bildung, Beruf, Freizeit, Reisen, Wohnen sind ab sofort nur noch dritte Wahl – oder ganz weg.
Julia Probst ist von Geburt an gehörlos und setzt sich vor allem in sozialen Netzwerken für Barrierefreiheit ein. Sie zog für die Grünen als erste Gehörlose in den Stadtrat einer bayerischen Kommune ein – „aus Notwehr“, wie sie sagt, weil Exklusion aus der Gesellschaft auch mit Ausschluss aus politischen Gestaltungsprozessen einhergehe. Bundesweit bekannt wurde sie bei der Fußball-WM 2010 mit dem „#Ableseservice“ auf ihrem Twitter-Account @Einugenschmaus: Probst, die eine Grundschule für Hörende besucht hatte, bewies bei der Beobachtung von Fußballern und Trainern eindrucksvoll ihre Fähigkeit zum Lippenlesen.
Fortschritt ist auf politischer Ebene bislang kaum sichtbar, trotz der Verpflichtung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Florian Harms spricht von manchen Verbesserungen, aber Deutschland hat die Staatenprüfung der UN sowohl 2015 als auch 2024 nur mit Ach und Krach bestanden. Stattdessen gibt es Symbolpolitik und gezielte Schritte rückwärts.
Barrierefreiheit als Ausnahme statt gelebte Selbstverständlichkeit ist eine deutsche Spezialität. Was wir diskutieren, setzten andere Länder, auch weit ärmere Länder, längst um. Die These, am guten Willen scheitere es nicht, ist deshalb nur die halbe Wahrheit. Dieser Wille ist oft politisch gar nicht vorhanden. In mehreren Bundesländern betrieben CDU und FDP sogar Wahlkampf gegen Inklusion.
Hierzulande sprachen Gerichte vor nicht allzu langer Zeit noch Urlaubern Schadensersatz zu wegen Behinderten am Nachbartisch. Viele Debatten und öffentliche Ansprachen finden ohne Gebärdensprachdolmetscher statt. In den USA wäre das undenkbar. Zugang zu Dienstleistungen und Verkehrsmitteln ist in anderen Ländern längst einklagbar, hierzulande wird gegen jede Rampe erbittert gekämpft. Dabei nutzt umsichtige und barrierefreie Planung allen. Jungen Eltern mit Kinderwagen ebenso wie Businessreisenden mit Trolley oder Senioren.

Statt Wirtschaft und Behörden zu verpflichten, baut Deutschland lieber an einer Pipeline: Menschen mit Behinderungen werden ungeachtet ihrer Fähigkeiten durch ein System der schulischen Exklusion nahtlos in eine rechtlose wie monotone Beschäftigungsform geleitet: die Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. Für ein bis zwei Euro pro Stunde erarbeitet man sich dort, dann doch kein Recht auf gewerkschaftliche Vertretung oder Streik zu haben.
An dieser Stelle ein Aufruf an die künftige Regierungskoalition: Die Ausgleichsabgabe, mit der sich Firmen von der Pflicht freikaufen können, Menschen mit Behinderungen zu beschäftigen, sollten dafür eingesetzt werden, den ersten Arbeitsmarkt zugänglich zu machen.
Exklusion macht krank. Exklusion tötet. Exklusion ist teuer. Dafür gibt es verschiedene Beispiele: Obwohl sich Deutschland dazu verpflichtet hat, fehlen in Katastrophensituationen Informationen in der Gebärdensprache und das Mitdenken vulnerabler Gruppen. Während in der Corona-Pandemie täglich neue Informationen zur Lage, zu Schutzmaßnahmen und zu Impfungen veröffentlicht wurden, mussten Gehörlose erst dafür kämpfen, dass diese lebenswichtigen Informationen überhaupt in Gebärdensprache transportiert wurden.
Eine Quote von nur fünf Prozent barrierefreier Frauenarztpraxen bedeutet für gehbehinderte Frauen eine große Herausforderung. Weil so Untersuchungen verzögert oder verschleppt werden, wird Krebs nicht selten spät erkannt. Während der Flutkatastrophe im Ahrtal starben 12 Menschen an Exklusion, an Heimunterbringung, am Vergessenwerden. Diese Unterversorgung ist systemisch.
