Brüssel, Berlin Neuwagen werden nicht ausgeliefert, Spielekonsolen sind vergriffen: Fehlende Mikrochips haben in den vergangenen Monaten erheblichen Frust verursacht und die Wirtschaftserholung gebremst. Die EU-Kommission will nun mit einem milliardenschweren Subventionsprogramm gegensteuern und die Halbleiterproduktion in Europa stärken.
Der sogenannte Chips Act, den die EU-Kommission am Dienstag in Brüssel vorgestellt hat, soll 43 Milliarden Euro zur Förderung der Branche mobilisieren.
Das Gesetz ist eine industriepolitische Offensive, mit der die EU den Rückstand Europas auf andere Regionen wettmachen und Abhängigkeiten von einzelnen asiatischen Lieferanten wie TSMC aus Taiwan reduzieren möchte.
Um dieses Ziel zu erreichen, will Brüssel die bisher strengen Regeln für staatliche Beihilfen freizügiger auslegen. Zudem schlägt die Kommission Regelungen vor, mit denen sie Chipproduzenten, die Staatshilfen erhalten haben, künftig dazu zwingen könnte, europäische Kunden zuerst zu beliefern. Damit will sich die EU für Versorgungskrisen wappnen.
Europa setze zwar weiter auf globale Kooperation, stellte die Vizepräsidentin der Kommission, Margrethe Vestager, auf der Europa-Konferenz von Handelsblatt, „Tagesspiegel“ und „Zeit“ klar. Doch „als letztes Mittel, wenn andere Möglichkeiten ausgeschöpft sind, können wir auch sagen: Wer in Europa produziert und von Europa unterstützt wurde, der hat auch eine Verpflichtung gegenüber dem europäischen Ökosystem“.
Vizepräsidentin der Kommission, Margrethe Vestager, sagt: „Wer in Europa produziert und von Europa unterstützt wurde, der hat auch eine Verpflichtung gegenüber dem europäischen Ökosystem“.
(Foto: imago pictures/ZUMA Wire)
Um die Branche zu fördern, will die Kommission Geld aus unterschiedlichen Quellen bündeln. Mittel aus dem EU-Haushalt sollen mit Investitionen der Mitgliedstaaten und aus der Privatwirtschaft kombiniert werden. Die Bundesregierung unterstützt das Vorhaben.
Der Chips Act „stärkt die Halbleiterproduktion in Europa, damit wir in diesem strategisch wichtigen Industriezweig stärker und souveräner werden“, sagte Franziska Brantner, Staatssekretärin im Wirtschaftsministerium, dem Handelsblatt. Dies erhöhe die Sicherheit der Unternehmen, vermeide Produktionsausfälle und Lieferengpässe.
Kritiker fürchten eine Beschränkung von Wettbewerb und Freihandel
Kritiker überzeugt das nicht. Das Centrum für Europäische Politik fürchtet einen „Paradigmenwechsel“. Das Ziel der Kommission, technologische Abhängigkeiten in Zeiten geopolitischer Konflikte zu verringern, sei zwar grundsätzlich legitim, sagte CEP-Vorstand Henning Vöpel. „Mit einer Beschränkung von Wettbewerb und Freihandel begibt sich Brüssel aber auf einen gefährlichen industriepolitischen Weg.“
Auch Stefan Kooths, Co-Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW), warnte: „Der EU Chips Act ist ökonomisch hochproblematisch.“ Bürokraten könnten das Marktpotenzial einzelner Industrien schlechter beurteilen als die Unternehmen.
Doch in anderen Weltregionen ist man im Umgang mit Fördermitteln wenig zurückhaltend. Auch deshalb ist Europas Anteil an der globalen Chipproduktion in den vergangenen Jahren stark zurückgegangen. Die Kommission hat das Ziel ausgegeben, diesen Pattern zu drehen. Bis Ende des Jahrzehnts soll sich der europäische Anteil an der globalen Chipproduktion von zehn auf 20 Prozent verdoppeln.
Chipproduktion in Dresden: Solche industriellen Leuchttürme sind noch zu selten in Europa.
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„Europa muss sich dem Technologiewettlauf stellen“, mahnte Binnenmarktkommissar Thierry Breton, der in Brüssel die treibende Kraft hinter dem Chips Act struggle. Die Kommission bestreitet, dass der Chips Act eine Abkehr von wirtschaftsliberalen Überzeugungen darstelle.
Subventionen sollten nur an Produktionsstätten gehen, die bestehenden Fabriken technologisch voraus seien. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) lobt die Initiative. „Die neue Halbleiterstrategie ist ein wichtiger Schritt, Europa als globalen Participant in der Chipfertigung zu stärken“, sagte Iris Plöger, Mitglied der BDI-Hauptgeschäftsführung. „Halbleiter sind unerlässlich für die erfolgreiche ökologische und digitale Transformation des Standorts Europa.“
Breton will die Steuermilliarden gerade auch zur Ansiedlung von Halbleiterfabriken nutzen, die modernste Chips mit Strukturgrößen von weniger als zehn Nanometern herstellen. Der deutsche Branchenverband ZVEI hält diesen Fokus für zu eng.
So gehe der Chips Act am Bedarf der europäischen Abnehmerindustrie vorbei, sagte Geschäftsführer Wolfgang Weber. „Europa muss seine Kompetenz in allen Strukturgrößen stärken, so sind auch Leistungselektronik und Sensorik entscheidend für das Gelingen der grünen und digitalen Transformation.“
Auf diesen Feldern sind die europäischen Chipfirmen führend. Die dafür nötigen Fabriken produzieren jedoch nicht mit den aufwendigsten Nanoverfahren, sondern mit reiferen Generationen von Chiptechnologie.
Auch der geplante Mechanismus für Exportkontrollen gefällt der deutschen Elektronikindustrie nicht. Es sei unverhältnismäßig, dass die EU einzelne Hersteller dazu verpflichten könne, spezifische Aufträge zu priorisieren. Weber: „Das untergräbt die grundlegende Wirtschaftsordnung.“
Deutschlands größter Chiphersteller, Infineon, steht dagegen hinter dem Chips Act. Er sei „ein wichtiger Schritt, um in Europa ein Halbleiterökosystem auf globalem Spitzenniveau zu etablieren und einseitige Abhängigkeiten abzubauen“, sagte Vorstandschef Reinhard Ploss. Die Fertigungsstrategie des Dax-Konzerns hänge aber nicht von Subventionen ab.
Deutschlands größter Chiphersteller, Infineon, steht hinter dem Chips Act.
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Als eine der ersten Chipfirmen könnte der US-Konzern Intel von den Milliarden der öffentlichen Hand profitieren. Der zweitgrößte Halbleiterhersteller der Erde stehe kurz davor, den Standort für zwei neue Fabriken in der EU zu verkünden, sagte Vorstandschef Pat Gelsinger dem Handelsblatt zuletzt. Voraussetzung für die Investitionsentscheidung sei allerdings die Zusage über mehrere Milliarden an Subventionen. Im Gespräch sind vier Milliarden Euro je Werk.
Hoffnungen auf neue Investitionen macht sich die Area Dresden, das wichtigste Zentrum für Halbleiterfabriken in Deutschland. Zuletzt zog Sachsen häufig den Kürzeren. In Dresden ansässige Konzerne investierten stattdessen im Ausland: So errichtet der Auftragsfertiger Globalfoundries neue Fabriken in den USA und Singapur. „Es ist absolut notwendig, dass in Europa die Rahmenbedingungen geschaffen werden, die in anderen Regionen der Welt bereits seit Langem gelten“, sagte Dirk Röhrborn, Vorstandsvorsitzender des Verbands Silicon Saxony, daher.
Auch Ökonomen befürworten stärkere Lenkungsversuche der Politik. „Die geografische Konzentration der Halbleiterproduktion ist ein Risiko“, betonte Dalia Marin, Professorin für Internationale Ökonomik an der TU München. „Die staatliche Intervention ist daher vollkommen gerechtfertigt.“
Das sieht Dietmar Harhoff ähnlich. „Ob wir es wollen oder nicht, ohne Anschubfinanzierungen durch staatliche Subventionen gibt es keinen Aufbau von Kapazitäten“, sagte der Innovationsforscher vom Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb.
Es wäre natürlich schön, gäbe es einen Weltmarkt, auf dem sich Chips problemlos und zeitnah besorgen ließen, erklärt Harhoff. „In Zeiten zunehmender internationaler Spannungen ist es aber wohl naiv, zu behaupten, der Produktionsort spiele für die Versorgungssicherheit keine Rolle.“
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