Berlin Der Ukrainekrieg bringt vieles in Bewegung. Alte Gewissheiten, Glaubenssätze und Überzeugungen in der Sicherheitspolitik wurden binnen Tagen aufgegeben. Doch nicht nur die Sicherheitspolitik, auch die europäische Finanzpolitik könnte der Krieg ordentlich durchrütteln.
So schließt die EU-Kommission nicht aus, die wegen der Corona-Pandemie ausgesetzten Schuldenregeln angesichts der russischen Invasion in der Ukraine auch im Jahr 2023 weiter auszusetzen. Gleichzeitig dürfte der Krieg die Reformdebatte um die EU-Schuldenregeln maßgeblich beeinflussen. „Nichts ist jetzt mehr so, wie es vor Ausbruch des Krieges warfare“, sagt ein ranghoher EU-Diplomat.
Im ersten Schritt bereitet die EU- Kommission die EU-Staaten darauf vor, das eigentlich für das nächste Jahr geplante Wiederinkrafttreten der EU-Schuldenregeln wegen des Kriegs zu verschieben. Angesichts der aktuellen Unsicherheit müsse dieser Schritt „neu bewertet werden“, sagte EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni.
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Der Stabilitäts- und Wachstumspakt ist bereits seit Beginn der Pandemie im Jahr 2020 ausgesetzt, um den Regierungen mehr finanzpolitischen Spielraum im Kampf gegen die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise zu geben. Er sieht unter anderem eine Obergrenze bei der Neuverschuldung von jährlich drei Prozent vor.
In ihren am Mittwoch vorgestellten finanzpolitischen Leitlinien empfiehlt die EU-Kommission nun, dass die Haushalts- und Schuldenpläne für 2023 die „individuellen Umstände der EU-Länder“ widerspiegeln sollen. Genauere Vorgaben dazu will die EU-Kommission im Frühling vorstellen.
Viele Beobachter in Brüssel rechnen jedoch damit, dass die EU die Schuldenregeln auch 2023 komplett aussetzen wird. EU-Staaten müssten additionally bei einem Verstoß gegen die Schuldenregeln auch im nächsten Jahr nicht mit einem Defizitverfahren rechnen.
Die russische Invasion werde „wahrscheinlich einen negativen Effekt auf das EU-Wachstum haben“, sagte Gentiloni im Gespräch mit dem Handelsblatt und weiteren europäischen Medien. Es gebe Auswirkungen auf die Finanzmärkte, Druck auf Energiepreise und hartnäckigere Lieferketten-Engpässe.
Dadurch werde auch die Inflation im Euro-Raum vorerst höher bleiben als gedacht. Zuletzt ist die Teuerungsrate im Euro-Raum auf 5,8 Prozent gestiegen – ein Allzeithoch. Eigentlich hatte die EU-Kommission mit einem Rückgang gerechnet. Doch eine Explosion der Energiepreise nach Ausbruch des Krieges hat diese Kalkulation zunichtegemacht.
Am Mittwoch schoss der Preis für eine Megawattstunde Erdgas zur Lieferung im April am niederländischen Referenzmarkt TTF binnen zwei Stunden von 128 auf quick 194 Greenback nach oben – ein Rekordhoch. Zuvor warfare bereits der Ölpreis in die Höhe geschnellt.
All diese Probleme drücken auf die Stimmung der Unternehmen, „wodurch Investitionen und Konsum gedrosselt werden könnten“, so Gentiloni. Ein „Stagflations“-Szenario mit hohen Inflations-, aber geringen Wachstumsraten hält der Währungskommissar allerdings nicht für sehr wahrscheinlich. „Die gute Nachricht ist: Der Aufschwung in Europa ist grundsätzlich intakt.“ Gentiloni hält deshalb auch jetzt an der ursprünglichen EU-Forderung fest, dass hochverschuldete EU-Staaten ihre Schuldenstände reduzieren sollen.
Trotz der gar nicht so düsteren Wirtschaftsaussichten hat jedoch eine Diskussion darüber begonnen, ob und wie die EU-Schuldenregeln an die neue sicherheitspolitische Lage angepasst werden können. Im Fokus dabei nun: die Verteidigungsausgaben.
Die Schuldenobergrenze von 60 Prozent ist de facto obsolet
Aufgrund der hohen Verschuldung infolge der Corona-Krise will die EU-Kommission die Schuldenregeln überarbeiten. Die durchschnittliche Verschuldung der Euro-Staaten, gemessen an ihrer Jahreswirtschaftsleistung, beträgt quick 100 Prozent, einige Länder wie Italien liegen noch weit darüber.
Die eigentliche Schuldenobergrenze von 60 Prozent ist damit de facto obsolet beziehungsweise ein Erreichen des Ziels wäre mit solch brutalen Sparmaßnahmen in den jeweiligen Staaten verbunden, dass selbst viele liberale Ökonomen es ablehnen, die alten Regeln wieder einfach in Kraft zu setzen.
Deshalb diskutiert die EU derzeit über verschiedene Reformvorschläge. Einer sieht vor, Investitionen insbesondere in grüne Technologien von den EU-Schuldenregeln auszunehmen. Investitionen in die Digitalisierung sind der zweite Bereich, der möglicherweise gesondert im neuen EU-Schuldenrahmenwerk behandelt werden könnte.
Nun kommt mit den Verteidigungsausgaben ein dritter, ganz neuer Bereich hinzu. Ausgerechnet Deutschland, das sonst immer auf strenge Schuldenregeln pocht, prescht dabei vor, indem es ein Sondervermögen für Verteidigungsausgaben in der Verfassung schaffen will. Eine Blaupause womöglich auch für andere EU-Staaten?
„Die Entscheidung von Bundeskanzler Olaf Scholz, die Verteidigungsausgaben so zu erhöhen, sind historisch und eine große Wende für ganz Europa“, sagte Gentiloni. Noch habe die EU in der Diskussion um eine Reform der EU-Schuldenregeln keine gemeinsame Linie gefunden. Die Kommission bleibe bei ihrer Auffassung, dass grüne Investitionen Vorrang haben müssten. „Ich bin aber offen dafür, darüber nachzudenken, auch Investitionen in Europas Autonomie bei den Schuldenregeln besonders zu berücksichtigen. Darunter kann man auch bestimmte Verteidigungsausgaben fassen“, sagte Gentiloni.
Auch Verteidigungsausgaben könnten so nicht mehr komplett unter die Schuldenregeln fallen. Gentiloni bekräftigte: „Dies ist der Second, in dem Europa eine gemeinsame Verteidigungs- und Energiepolitik erarbeiten muss. Wir dürfen nicht länger vom russischen Gasoline abhängig sein.“ Allerdings wolle er jedem Eindruck entgegentreten, einen „Weihnachtsbaum“ zu schaffen, bei dem sich jeder Staat Ausnahmen wünsche könne, so Gentiloni.
Mehr: Wie einige EU-Südstaaten immer tiefer in die Verschuldung rutschen – und andere sich befreien können