Berlin Die Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP widmet dem Umbau des Strommarkts in ihrem Koalitionsvertrag große Aufmerksamkeit. Der Ausbau der erneuerbaren Energien steht dabei im Vordergrund. Die Erneuerbaren-Branche nimmt den Ball auf und skizziert ihre Vorstellungen eines Komplettumbaus des Stromerzeugungssystems. Ziel des Konzepts ist es, die betriebswirtschaftliche Grundlage für den rasanten Ausbau der Erneuerbaren zu schaffen, den auch die Ampelkoalitionäre anstreben.
Erarbeitet wurde es vom Bundesverband Erneuerbare Energien (BEE) sowie 70 Unterstützern, darunter Unternehmen wie Enercon und Juwi, aber auch verschiedene Fachverbände. Das Konzept liegt dem Handelsblatt vor.
BEE-Präsidentin Simone Peter sagte dem Handelsblatt: „Damit die von der Ampelkoalition angedachte Zielmarke von 80 Prozent erneuerbarer Energien am Bruttostromverbrauch im Jahr 2030 realistisch erreicht werden kann, braucht es neben dem Abbau von Markthemmnissen für Erneuerbare auch neue Rahmenbedingungen für den Strommarkt.“ Das bisher auf fossile Energieträger ausgerichtete System müsse sich auf erneuerbare Energien einstellen, „besonders auf die Integration hoher Mengen an fluktuierenden Energien wie Sonne und Wind“.
Das Konzept für den Strommarkt der Zukunft basiert auf einem Kohleausstieg im Jahr 2030, auf Dezentralität und einer Flexibilisierung von Stromangebot und -nachfrage. Nach Einschätzung des BEE sind einige politische Maßnahmen unabdingbar, damit der Kurwechsel gelingt.
Dazu zählt die Absenkung der Stromsteuer von derzeit 2,05 Cent je Kilowattstunde auf den europarechtlich zulässigen Mindestbetrag von 0,05 Cent ebenso wie die komplette Streichung der Umlage nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG). Sie ist im Koalitionsvertrag bereits angelegt und soll ab Januar 2023 greifen.
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Darüber hinaus fordert die Erneuerbaren-Branche, die Entgelte für die Nutzung der Stromnetze zeitvariabel zu gestalten: Die Höhe des Entgelts für Endkunden soll an die Einspeisung erneuerbarer Energien gekoppelt werden. Das würde für jede Verbraucherin und jeden Verbraucher den Anreiz schaffen, verstärkt Strom zu verbrauchen, wenn Wind- oder Sonnenstrom die Netze fluten und der Marktpreis an der Strombörse niedrig ist. Voraussetzung für solche Modelle ist, dass intelligente Stromzähler („Sensible Meter“) in möglichst vielen Haushalten im Einsatz sind. Außerdem empfiehlt die Erneuerbaren-Branche, die Netzentgeltbefreiung für die Wasserstoffelektrolyse zu verlängern.
Zusätzlich plädiert der BEE dafür, die Nebenkosten von Stromspeichern abzusenken: Die Netzentgeltbefreiung für Stromspeicher müsse ausgeweitet und auf alle Speicherkonstellationen angewendet werden können. Für den Bau von Stromspeichern muss es nach den Vorstellungen der Branche einen Investitionskostenzuschuss in Höhe von zehn Prozent geben.
Biogas übernimmt die Again-up-Funktion
Zudem sollen Biogasanlagen zusätzliche Leistungskapazitäten vorhalten müssen und an Gasspeicher angeschlossen werden. So soll eine signifikante steuerbare Leistung entstehen, die immer dann zum Tragen kommen kann, wenn Wind- und Sonnenstrom keine ausreichenden Beiträge zur Deckung der Stromnachfrage leisten können.
Damit würden Biogasanlagen eine zentrale Rolle zur Sicherstellung der Versorgung übernehmen. Bio-Energie, Anlagen zur Kraft-Wärme-Kopplung (KWK) und Speicher könnten zusammen „ausreichend steuerbare Leistung für die Versorgungssicherheit“ bereitstellen, heißt es in dem Papier. Es sei nur ein „sehr geringer Zubau“ von Wasserstoff-Gaskraftwerken erforderlich – und das auch erst weit nach 2030.
Das sehen viele Participant der Energiebranche völlig anders. So sind beispielsweise der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), die Deutsche Energie-Agentur (Dena) und der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) davon überzeugt, dass bis 2030 in erheblichem Umfang zusätzliche Gaskraftwerkskapazitäten entstehen müssen, um trotz Kohle- und Atomausstieg die Versorgung zu jeder Zeit sicherstellen zu können.
Übereinstimmend setzen BDI, Dena und BDEW dabei voraus, dass neue Gaskraftwerke für den Betrieb mit Wasserstoff geeignet sein müssen. Für eine Übergangszeit halten sie aber den Einsatz von Erdgas in den neuen Kraftwerken für unvermeidbar. Der BEE dagegen hält solche Überbrückungslösungen für überflüssig.
Erhebliche Potenziale sieht die Erneuerbaren-Branche für die heimische Produktion von grünem Wasserstoff: Bis zu 100 Gigawatt (GW) Elektrolyseleistung können bis 2045 „hierzulande finanziell lohnend und mit hoher regionaler Wertschöpfung aufgebaut werden, sodass ein Import von grünem Wasserstoff zur direkten Nutzung für die Umsetzung der Energiewende in Deutschland nicht zwingend notwendig ist“, heißt es beim BEE.
Die Nationale Wasserstoffstrategie, die 2020 von der damaligen Bundesregierung verabschiedet wurde, sieht den Aufbau einer Elektrolysekapazität von fünf GW vor – allerdings bis 2030. Die Ampelkoalition bekennt sich dazu, an die Wasserstoffstrategie der Vorgängerregierung anzuknüpfen und diese fortzuschreiben.
Einen neuen Zielwert für die Elektrolysekapazitäten im Jahr 2030 haben die Ampelpartner bereits definiert: Sie peilen zehn GW für 2030 an.
Anders als der BEE hält die Ampelkoalition an dem Plan der Vorgängerregierung fest, nicht allein auf die heimische Produktion von grünem Wasserstoff zu setzen. Vielmehr bekennen sich die Ampelkoalitionäre zum Aufbau von Wasserstoff-Importpartnerschaften.
Die BEE-Pläne decken sich stellenweise mit den Vorstellungen der Grünen. Die Partei hatte bereits im Frühjahr ein Positionspapier für die Umgestaltung des Strommarkts vorgestellt. Einige Ideen daraus spiegelt auch der Koalitionsvertrag wider, der jedoch insgesamt noch recht unverbindlich bleibt.
Ab 2023 ist die EEG-Umlage Geschichte
Übereinstimmend kommen BEE und Ampelkoalitionäre zu der Erkenntnis, dass der Strompreis von Abgaben und Umlagen befreit werden muss. Dem tragen die Koalitionäre mit der Entscheidung Rechnung, die komplette Abschaffung der EEG-Umlage für Januar 2023 anzukündigen. Damit fallen künftig Einnahmen von jährlich rund 25 Milliarden Euro weg. Die Finanzierung übernimmt der Energie- und Klimafonds (EKF), der aus den Einnahmen der Emissionshandelssysteme und durch einen Zuschuss aus dem Bundeshaushalt gespeist wird.
Mittelfristig wird sich auch die Förderung der erneuerbaren Energien wandeln. So ist das System der festen Einspeisevergütungen für Strom aus erneuerbaren Quellen zwar in den vergangenen Jahren immer wieder angepasst und um marktnahe Instrumente ergänzt worden. Allerdings sind sie noch immer in hohem Maße von den EEG-Zahlungen abhängig.
Experten empfehlen, das zu ändern. „Sukzessive sollten zukünftig Anlagensegmente und Erzeugungstechnologien aus der EEG-Förderung herausgenommen werden, die heute aufgrund der Kostenreduktion und der steigenden Marktpreise schon wettbewerbsfähig sind“, sagte Andreas Kuhlmann, Chef der Deutschen Energie-Agentur (Dena), dem Handelsblatt.
Das gelte für Windparks, deren 20-jährige EEG-Förderung abgelaufen sei, „ab sofort, für die weit überwiegende Mehrheit der Anlagen im Photovoltaik-Freiflächensegment auch bereits jetzt“, sagte der Dena-Chef. Dennoch werde die EEG-Förderung insbesondere für kleinere Anlagen, etwa bei Photovoltaik-Dachanlagen oder im Section der mittelgroßen Gewerbeanlagen, wichtig bleiben.
Das sieht man beim Thinktank Agora Energiewende ebenso: Bis auf Weiteres sei „eine Absicherung, wie sie das EEG gibt, für das Erreichen der Ausbauziele für erneuerbare Energien nötig“, sagte Thorsten Lenck, Strommarktexperte bei Agora Energiewende. Gleichzeitig könnten Direktabnahmeverträge gestärkt werden, etwa durch weiter gehende Reformen von Abgaben, Umlagen und Netzentgelten.
Nach Einschätzung des BEE sind die Erneuerbaren erst ab 2040 ohne weitere Förderung „marktfähig“. In dieser Hinsicht stellt die Ampelkoalition höhere Ansprüche: „Mit der Vollendung des Kohleausstiegs werden wir die Förderung der erneuerbaren Energien auslaufen lassen“, heißt es im Vertrag der Koalitionäre, die den Kohleausstieg „idealerweise“ für 2030 anstreben.
Ist der Zubau schon heute ohne staatliche Hilfe möglich?
Allerdings gibt es auch Stimmen, die die Erneuerbaren schon heute in die Selbstständigkeit entlassen wollen. So kommt eine noch unveröffentlichte Studie des Thinktanks Epico zu dem Ergebnis, der Zubau der Erneuerbaren könne ohne staatliche Hilfen erfolgen. „Der Grund ist, dass es auch in einem System mit einem sehr hohen Anteil an Erneuerbaren weiterhin Perioden mit hohen Strompreisen und somit Erlösmöglichkeiten geben wird“, sagt Epico-Chef Bernd Weber. Das sei dann der Fall, „wenn Erneuerbare die Final nicht vollständig decken können und somit versatile Erzeugungstechnologien und Flexibilitätsoptionen mit hohen Grenzkosten, wie Wasserstoffkraftwerke oder abschaltbare Lasten, preissetzend sind“.
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