Buchenwald-Gedenkstättenleiter Jens-Christian Wagner kritisiert gewaltbereite Neonazis bei prorussischen Demos. Jetzt läuft deshalb gegen ihn ein Verfahren wegen Beleidigung.
Er sprach bei einer Gedenkveranstaltung zu Russlands Überfall auf die Ukraine von „gewaltbereiten Neonazis mit blauen Friedenstauben-Fahnen“ unter prorussischen Demonstranten: Gegen den Historiker Jens-Christian Wagner, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald, wird deshalb seit fünf Monaten wegen Beleidigung ermittelt.
Er hat das selbst öffentlich gemacht und nennt den Vorgang „kaum zu glauben“. Um den Ausgang der Ermittlungen macht er sich zwar wenig Sorgen, allerdings sei es „bedenklich“, dass es überhaupt zu solch einem Verfahren komme.
Angezeigt wurde er aus den Reihen der „Montagsspaziergänger“, die sich in der Corona-Zeit formiert haben und bei denen vielfach Rechtsextreme die Fäden ziehen. Der Fall zeigt beispielhaft, wie Gruppen, die vorgeblich für Meinungsfreiheit demonstrieren, mit Kritik ein Problem haben.
Auslöser für den skurrilen Fall ist demnach eine Veranstaltung am 24. Februar in Weimar. Für Wagner war es ein Anliegen und naheliegend, damals an der Seite des Thüringer Ministerpräsidenten Bodo Ramelow (Linke) zu sprechen: Es war der zweite Jahrestag von Russlands Angriff auf die Ukraine. Und dem Krieg zum Opfer gefallen ist auch der Buchenwald-Überlebende und Vizepräsident des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora, Boris Romantschneko. Er starb in Charkiw durch ein Geschoss auf sein Haus. Der russische Angriff bedrohe in der Zivilbevölkerung auch weitere Holocaust-Überlebende, so Wagner.
Unter Wagners Zuhörern waren aber nicht nur viele Ukrainer, sondern auch eine Gruppe vom „Montagsprotest der Weimarer Revolution“. Sie waren im hinteren Teil zu erkennen an Plakaten gegen Waffenlieferungen für die Ukraine sowie an Deutschland- und Friedenstauben-Fahnen. Weil sie sich mit anderen Anwesenden verbal lautstark auseinandersetzten, schickte sie die Polizei schließlich weg.
Doch ein großer Teil der etwas über ein Dutzend Personen, die die Gedenkveranstaltung darum verließen, tauchte später wieder bei der Polizei auf – um Anzeige gegen Wagner zu erstatten. Sie fühlten sich beleidigt, weil er sie als „gewaltbereite Neonazis“ bezeichnet habe.
Hannes Grünseisen, Sprecher der Staatsanwaltschaft Erfurt, bestätigt auf Anfrage von t-online: Es gehe bei dem Verfahren gegen Wagner um den Verdacht der Beleidigung und diesen konkreten Vorwurf. „Die Bezeichnung einer Person oder von bestimmten Personen als ‚gewaltbereite Neonazis‘ kann eine ehrverletzende Behauptung und damit eine Beleidigung sein.“
Doch meinte Wagner tatsächlich Anwesende der Gedenkveranstaltung? Ein auf der Plattform X verbreitetes Video von Wagners Rede zeigt, dass er mit den Aussagen niemanden Bestimmten so bezeichnet und die anwesenden Gegendemonstranten nicht damit adressiert hat.
Wagner gestand dort zu, dass es vielen Menschen ehrlich um Menschenleben auf beiden Seiten gehe und um Angst vor einer Ausweitung des Krieges. Wer Frieden wolle, und das wollten alle, müsse sich aber an Putin wenden. Dann begann, was die Demonstranten in ihrer Ehre verletzt haben soll.
„Vermeintlich friedensbewegte Propaganda“ werde dann „bösartig“, wenn sie von Rechtsextremen vorgetragen werde, so Wagner: „Wenn gewaltbereite Neonazis mit blauen Friedenstauben-Fahnen oder ‚Schwerter-zu-Pflugscharen-Plakaten‘ aufmarschieren, dann widerspricht das allem, was die Friedensbewegung der 1980er-Jahre in Ost und West sich herbeisehnte.“ Die Realität in Putins Russland verhöhne, wofür die Friedenstaube stehe.
Dann richtete er sich direkt an die Gegendemonstranten und sagte: „Das müssen sich alle hinter die Ohren schreiben, die hier mit diesen Fahnen dahinten stehen, von den Montagsdemonstranten bis hin zu AfD-Funktionären.“ Er hat die anwesenden Teilnehmer von den Montagsprotesten demnach nicht selbst als „gewaltbereite Neonazis“ bezeichnet, sondern sie darauf hingewiesen, dass sie das Agieren solcher Akteure bedenken sollen.
Die „Montagsspaziergänge“ sind entstanden aus den Corona-Protesten und werden mitgetragen von „Freies Thüringen“ und „Freie Thüringer“, die mit der NPD-Nachfolgepartei „Die Heimat“ verflochten sind und vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Zeitweilig hatten sich Tausende den Protesten angeschlossen, von denen viele Rechtsextremismus eigentlich ablehnen und mit den heutigen Protesten nichts mehr zu tun haben.
Das Verfahren liegt erst seit Juli bei der Erfurter Staatsanwaltschaft auf dem Tisch, weil bisher die Polizei alleinverantwortlich ermittelte und den Fall nicht zur Prüfung vorgelegt hatte. Das ist bei Zweifelsfällen möglich, kommt aber selten vor. Bei der Polizei war in Weimar nach den Anzeigen ein Anfangsverdacht gesehen und mit den Ermittlungen begonnen worden. Fünf Monate später scheint der Fall klar: Das Verfahren werde bald abgeschlossen, sagt Grünseisen.