Brüssel, Berlin „Putin wird diesen Krieg nicht gewinnen“, verkündet Bundeskanzler Olaf Scholz. Eine quick bizarr klingende Aussage, angesichts der Geschwindigkeit, mit der russische Truppen die Verteidigungslinien der Ukraine durchstoßen. Die ukrainischen Streitkräfte haben der russischen Übermacht wenig entgegenzusetzen. Doch wenn man den Blick weitet und ganz Europa betrachtet, hat Scholz recht. Putins erklärtes strategisches Ziel battle es, den Amerikanern einen Rückzug der Nato-Truppen aus Osteuropa abzuringen.
Das Gegenteil dessen tritt nun ein. Die Nato verstärkt ihre Ostflanke und aktiviert ihre Verteidigungspläne. Die USA senden noch mehr Truppen nach Europa. 7000 zusätzliche US-Soldaten sollen schon in den nächsten Tagen in Deutschland eintreffen. Womöglich werden es noch mehr. Putin hat der Nato, die sich nach dem demütigenden Abzug aus Afghanistan in einer Sinnkrise befand, neues Leben eingehaucht. Einig wie selten zuvor zeigen sich die Bündnispartner angesichts der russischen Aggression gegen ein militärisch weit unterlegenes Nachbarland.
Am Freitagmittag wollen die Staats- und Regierungschefs der 30 Nato-Mitglieder zu einem virtuellen Gipfel zusammenkommen. US-Präsident Joe Biden stimmte die Associate schon auf die neue Bedrohungslage ein. „Er hat viel größere Ambitionen als die Ukraine“, sagte Biden über den russischen Machthaber. „Er will die ehemalige Sowjetunion wiederherstellen.“ Damit könnten auch die baltischen Staaten in Putins Fadenkreuz geraten. Litauen hat an Donnerstag den Ausnahmezustand verhängt, der einen flexibleren Einsatz von staatlichen Reserven und einen verstärkten Grenzschutz ermöglicht.
Wie groß die Sorgen im Baltikum sind, zeigt auch die emotionale Rede, die Valdis Dombrovskis, der lettische Vizepräsident der EU-Kommission, am Donnerstag in Paris hielt. „Russland stellt eine echte Bedrohung für die freie Welt dar. Es entwickelt sich zu einem Pariastaat“, sagte Dombrovskis, der nicht gerade für Gefühlsausbrüche bekannt ist. „Wir dürfen nicht naiv sein. Wir müssen unsere Beziehungen zu Russland in allen Bereichen überdenken.“
High-Jobs des Tages
Jetzt die besten Jobs finden und
per E-Mail benachrichtigt werden.
Die Amerikaner bereiten genau das vor. Im Mittelpunkt der Überlegungen steht die Nato-Russland-Grundakte, der 1997 geschlossene Vertrag über die Osterweiterung der Allianz, der die Stationierung westlicher Truppen in Osteuropa limitiert und Moskau im Gegenzug zu friedlicher Kooperation mit seinen Nachbarn verpflichtet. „Angesichts der aktuellen Lage müssen wir uns fragen, ob wir uns weiter an einen Vertrag halten sollen, den die Russen brechen“, sagt die amerikanische Nato-Botschafterin Julianne Smith, eine enge Vertraute von Präsident Biden.
>> Lesen Sie auch: Alle aktuellen Entwicklungen zum Ukraine-Konflikt im Liveblog
Europa steuert auf einen neuen Kalten Krieg zu.
Nach Einschätzung von Professor an der Münchener Bundeswehr-Universität hat der Kreml die Nato-Russland-Grundakte „de facto“ schon 2014 aufgekündigt – mit der Annexion der Halbinsel Krim. „Nun ist es an der Nato, ihrerseits dieses Dokument zu Grabe zu tragen und die dadurch gewonnene Handlungsfreiheit umzusetzen. Dies bedeutet etwa die dauerhafte Stationierung substanzieller Kampfverbände in den neuen Mitgliedstaaten.“
Wenn es dazu kommt, könnten sich bald wieder Nato-Kampftruppen und russische Militärverbände gegenüberstehen, dieses Mal nicht in Deutschland, sondern an der Grenze zwischen Polen und Belarus, das Putin bereits zum Satellitenstaat degradiert hat. Europa steuert auf einen neuen Kalten Krieg zu.
Russlands Angriffskrieg verschiebt die Sicherheitsarchitektur im atemberaubenden Tempo. Mit Finnland und Schweden nehmen am virtuellen Nato-Gipfel auch zwei Länder teil, die nicht Teil der Allianz sind, nun aber näher an sie heranrücken. Es gehe darum, die Einigkeit des Bündnisses zu demonstrieren und die enge Partnerschaft mit beiden skandinavischen Ländern, betont Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg.
Auch Deutschland, das die Friedensdividende nach dem Zerfall der Sowjetunion ausgekostet hat wie kaum ein anderes Land, denkt neu über die Landes- und Bündnisverteidigung nach. „Wir müssen uns mit der Tatsache vertraut machen, dass unsere Streitkräfte seit vielen, vielen Jahren auf Verschleiß gemanagt wurden“, sagte Finanzminister Christian Lindner am Donnerstagabend in einem Fernseh-Interview. Sinkende Verteidigungsausgaben „passen nicht mehr in die Zeit“.
Davon versuchen die Amerikaner die Deutschen schon seit Jahren zu überzeugen. Sie pochen darauf, dass die Nato-Associate ihren Wehretat schrittweise auf zwei Prozent der Wirtschaftsleistung anheben und mehr Lasten im Bündnis übernehmen. Putin magazine den Krieg gegen die Ukraine gewinnen. Aber die Nato, die er zu seinem Hauptgegner erklärt hat, macht er damit nur noch stärker.
Mehr: Putins Krieg: Das bezweckt der Präsident mit dem Angriff auf die freie Welt