Berlin Die energieintensive Industrie kämpft für niedrigere Strompreise. „Um Klimaneutralität und internationale Wettbewerbsfähigkeit unter einen Hut zu bekommen, schlagen wir die Einführung eines grünen Industriestrompreises als Transformationsturbo für die energieintensive Grundstoffindustrie vor“, sagte Christian Hartel, Vorstandschef der Wacker Chemie AG, dem Handelsblatt.
Man vertraue „auf die Aussagen der Bundesregierung im Koalitionsvertrag, dass die Wirtschaft wettbewerbsfähige Strompreise bekommt“, sagte Volker Backs, Geschäftsführer des Aluminiumherstellers Speira, dem Handelsblatt.
Die hohen Strompreise in Deutschland sind für viele Industriebranchen seit Jahren ein gravierender Wettbewerbsnachteil. Im europäischen Vergleich zahlen deutsche Industrieunternehmen sehr hohe Strompreise. Das gilt auch für solche Firmen, die in den Genuss bestimmter Ermäßigungen kommen. Dazu zählen insbesondere die Besondere Ausgleichsregelung (BesAR) des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG), der Spitzenausgleich bei der Stromsteuer, Ermäßigungen bei den Netzentgelten und bei der Umlage nach dem Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz (KWKG).
In der Praxis wirft das Dickicht an Ausnahmeregelungen und Vergünstigungen große Probleme auf. Die meisten Vergünstigungen müssen Jahr für Jahr neu beantragt und hart erkämpft werden. Viele Regelungen stehen zudem seit Jahren unter kritischer Beobachtung der EU-Kommission, die unzulässige Beihilfen wittert.
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Auf Druck der Brüsseler Behörde ändern sich Schwellenwerte – ganze Branchen werden dann von bestimmten Vergünstigungen wieder ausgenommen. Dabei kann beispielsweise die Frage, ob die BesAR gewährt wird oder nicht, für den Fortbestand eines Betriebes entscheidend sein.
Strompreis essenziell für viele Branchen
Strom hat auf dem Weg zur Klimaneutralität wachsende Bedeutung, er kann in vielen Fällen fossile Energieträger direkt ersetzen. Außerdem werden große Mengen Strom benötigt, um grünen Wasserstoff herzustellen, der immer dort Fuel oder Öl ersetzen kann, wo die direkte Stromanwendung ausscheidet. Die Entwicklung des Strompreises ist somit essenziell für die Zukunft ganzer Branchen.
Immerhin zeichnet sich eine grundlegende Entlastung ab: Die EEG-Umlage fällt zum 1. Januar 2023 ganz weg, so steht es im Koalitionsvertrag. Künftig muss sich additionally niemand mehr mit der BesAR herumschlagen. Viele Unternehmen begrüßen das sehr.
Aber: Andere Umlagen und die dazugehörigen Entlastungsregelungen bleiben bestehen. Im Klimaschutz-Sofortprogramm von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) heißt es, die an die BesAR gekoppelten Umlagen würden in ein eigenes Gesetz überführt. Betroffen sind die KWKG-Umlage und die Offshore-Netzumlage. Um die Befreiung von diesen Umlagen werden die Unternehmen additionally wieder jedes Jahr aufs Neue kämpfen müssen, ebenso um Entlastungen bei den Netzentgelten und um den Spitzenausgleich bei der Stromsteuer.
Die Energieintensiven fordern einen radikalen Schnitt. Ein Industriestrompreis soll für dauerhaft wettbewerbsfähige Stromkosten sorgen. Das schaffe „die notwendige Planungssicherheit und Wettbewerbsfähigkeit für die anstehenden Transformationsinvestitionen in klimaneutrale Industrieprozesse“, sagte Wacker-Chef Hartel.
Der Chef des Unternehmens setzt auf Differenzverträge. Dabei verpflichtet sich der Staat gegenüber den Unternehmen, einen bestimmten Strompreis zu garantieren, der sich an einem Index und an den Industriestrompreisen in anderen Ländern orientiert. Die Differenz zu den tatsächlichen Kosten übernimmt der Staat. Die Unternehmen hätten die Gewissheit, keine höheren Stromkosten tragen zu müssen als ihre Wettbewerber innerhalb und außerhalb der EU.
Scholz: „Mein Ziel ist ein Industriestrompreis von vier Cent“
In der Politik hat die Industrie Fürsprecher. So hatte sich der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (SPD) erst vor wenigen Tagen im Interview mit dem Handelsblatt für einen Industriestrompreis ausgesprochen. „Das ist die einfachste Lösung, die der Industrie verlässlich helfen und dauerhaft für Stabilität sorgen wird“, sagte Söder.
Auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) gehört zu den Befürwortern dieser Lösung. „Mein Ziel ist ein Industriestrompreis von vier Cent“, hatte Scholz im Juni vergangenen Jahres gesagt. Vier Cent je Kilowattstunde wären für die meisten Industrieunternehmen ein Befreiungsschlag. Derzeit zahlen die meisten Unternehmen ein Vielfaches.
Ein Modell für einen aus Sicht der betroffenen Unternehmen praktikablen Weg zur Einführung eines Industriestrompreises ist unter dem Dach des Grünen Wirtschaftsdialogs entstanden. Das Konzept, vorgestellt im September vergangenen Jahres, soll eine „bedarfsgerechte Stromversorgung aus grünen Quellen zu worldwide wettbewerbsfähigen Preisen“ für die „stromintensive Grundstoffindustrie“ ermöglichen. Auch hier sind Differenzverträge der Dreh- und Angelpunkt.
Erarbeitet hat das Papier ein Fachforum des Wirtschaftsdialogs, an dem Expertinnen und Experten aus mehreren Unternehmen beteiligt waren. Der Grüne Wirtschaftsdialog versteht sich als Plattform, die für gegenseitiges Verständnis zwischen Unternehmen und politischen Entscheidungsträgern der Grünen sorgen soll. Vorsitzender ist der Grünen-Politiker Thomas Gambke.
Die Chancen, dass das Papier auch bei Minister Habeck auf Interesse stößt, stehen daher nicht schlecht, so die Hoffnung der Unternehmen. Die Verfasser des Papiers werben insbesondere mit dem Argument, die von ihnen ersonnene Regelung sei konform mit dem EU-Beihilferecht. Bislang lehnt die EU-Kommission einen Industriestrompreis ab.
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