Rechtsextreme, darunter auch Politiker der AfD, planen die Vertreibung von Millionen Menschen nach Nordafrika. Das erinnert an eine verbrecherischen Idee der Nazis: die Deportation europäischer Juden auf eine weit entfernte Insel.
Der Lehnitzsee in Potsdam ist eine schöne Landschaft – am 25. November 2023 ist dort allerdings Schreckliches diskutiert worden, wie das Recherchezentrum „Correctiv“ jüngst berichtete: Wie lassen sich Millionen Menschen mit Migrationshintergrund aus Deutschland „entfernen“? Selbst solche, die im Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft sind? Rechtsextreme und Politiker der AfD waren demnach unter anderem zur „Erörterung“ dieser Fragestellungen in einem Hotel am Lehnitzsee zusammengekommen, so „Correctiv“.
Fast die gleiche Gegend, rund 80 Jahre früher: 15 Männer treffen sich am 20. Januar 1942 in einer Villa am Wannsee, ein paar Kilometer vom Lehnitzsee entfernt. Auf ihrer Tagesordnung steht Monströses: die Organisation der Ermordung der europäischen Juden. SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich, beauftragt mit der „Endlösung der Judenfrage“, hatte die Teilnehmer von SS und aus Ministerien zur sogenannten Wannseekonferenz eingeladen.
„Noch als Faustpfand hierbehalten“
Schnell hat die Öffentlichkeit in den vergangenen Tagen Analogien zwischen den Geschehnissen von 2023 und 1942 ausgemacht. Der Deutsche Richterbund etwa warnte unlängst mitsamt anderer juristischer Verbände davor, dass sich „dieses Treffen in der Rückschau nicht als ‚zweite Wannseekonferenz‘ entpuppen“ dürfe.
Eine wichtige Warnung, eindringliche Worte – die historisch allerdings ungenau sind: Die am Lehnitzsee am 25. November 2023 besprochene „Remigration“ – eine euphemistische Umschreibung für Abschiebung und Deportation – erinnert nämlich weniger an das Treffen am Wannsee, wo es um die Durchführung des Holocaust ging, sondern vielmehr an ein anderes Vorhaben der Nationalsozialisten: den „Madagaskarplan“. Nach Madagaskar, viertgrößte Insel der Welt und vor der Küste Ostafrikas im Indischen Ozean gelegen, wollten die Nationalsozialisten zu Beginn des Zweiten Weltkriegs Millionen jüdische Menschen verschleppen.
Während in unserer Gegenwart Martin Sellner von der rechtsextremen „Identitären Bewegung“ am Lehnitzsee darüber sinnierte, die „Ansiedlung von Ausländern rückabzuwickeln“, womöglich in einen nordafrikanischen „Musterstaat“, wollte sich 1940 ein gewisser Franz Rademacher zum Herrn über das Schicksal der deutschen Juden machen. Und nicht nur dieser, sondern aller Juden, die sich seit dem Ausbruch der Zweiten Weltkriegs im Machtbereich der Nationalsozialisten befanden.
Der Jurist Rademacher war „Judenreferent“ im Auswärtigen Amt, in dem Hitlers Absichten in Bezug auf die Juden wohlbekannt waren. „Hauptsache ist, daß die Juden hinausgedrückt werden“, äußerte sich der „Führer“ laut Reichspropagandaminister Joseph Goebbels 1938. „In 10 Jahren müssen sie aus Deutschland entfernt sein.“ Bis dahin gedachte Hitler diesen Menschen allerdings eine andere Rolle zu: „Aber vorläufig wollen wir die Juden noch als Faustpfand hierbehalten.“
„So gründlich wie möglich vernichtet“
Im Kriegsjahr 1940 und nach der Ausdehnung des deutschen Machtbereichs in Europa waren die Überlegungen schon weiter vorangeschritten. Rademacher schlug eine „Trennung zwischen Ost- und Westjuden“ vor, wie der Historiker Lars Lüdicke ihn in seinem Buch „Hitlers Weltanschauung. Von ‚Mein Kampf‘ bis zum ‚Nero-Befehl'“ zitiert. Erstere sollten als „Faustpfand in deutscher Hand“ dienen. Zu welchem Zweck? „Damit die Juden Amerikas in ihrem Kampf gegen Deutschland lahmgelegt bleiben“, so Rademacher.
Für die zweite Gruppe hatte der Diplomat andere Pläne: „Die Westjuden werden dagegen aus Europa entfernt, beispielsweise nach Madagaskar.“ Was Rademacher hier skizzierte, bedeutete nichts weniger als die Verschleppung von Millionen aus Europa auf eine weit entfernte Insel. Warum aber Madagaskar?
Zurück geht die Idee auf Paul de Lagarde. Der deutsche Orientalist, ein fanatischer Nationalist und noch fanatischerer Judenhasser, hatte bereits im 19. Jahrhundert Madagaskar als mögliches Ziel einer Vertreibung der Juden ausgemacht, wie der Historiker Peter Longerich in „Antisemitismus. Eine deutsche Geschichte“ schreibt.